Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
das Beweisstück
einfach in einem der zahlreichen rios zu versenken.
Aber konnte er es
wagen, das Hotel zu verlassen — auch um ein warmes
Café aufzusuchen? Sich durch die üble Gegend, in
welcher der Albergo della Fava lag, zum Markusplatz
durchzuschlagen? Und wieder die misstrauischen Blicke des Portiers
zu ertragen, wenn er den Schlüssel abgab? Wie schnell sprach
es sich im Milieu herum, was in der Pensione Seguso geschehen war?
Dass der Wahnsinnige, der dieses Gemetzel veranstaltet hatte, noch
auf freiem Fuß war? Und was wäre, wenn der Portier
...
Nein — es
würde keinen Sinn haben, die Tat zu leugnen. Die Beweise waren
überwältigend. Er riss die Augen auf, die er
unwillkürlich geschlossen hatte, und sein Blick fiel auf den
aufgeklappten Koffer mit den chirurgischen Messern. Mein Gott, die
Messer! Er hatte nicht daran gedacht, dass ihn auch dieser Koffer
verdächtig machte! Er stürzte zum Waschtisch, um den
Deckel zu schließen, als es plötzlich an der Tür
klopfte.
Aus! Sie hatten ihn
erwischt! Er hielt inne, straffte den Körper und atmete tief
durch. Als er zur Tür ging, staunte er über die
Erleichterung, die er darüber empfand, dass sie ihn gefasst
hatten.
Aber dann war es nur
das Zimmermädchen, das sein Bett machen wollte und den Krug
mit heißem Wasser brachte, um den er heute Morgen gebeten
hatte. Die Frau war geschminkt wie eine Schlampe, und er konnte
sich vorstellen, dass sie nicht nur als Zimmermädchen im
Albergo della Fava arbeitete. Wieder fiel ihm ein, dass seine
Mutter ihn immer vor Frauen gewarnt hatte.
23
Als Tron am
nächsten Montag das Café Florian betrat, hatte er
die Gazzetta bereits gelesen. Einen
Artikel über einen Mord in der Pensione Seguso gab es noch
nicht, doch war nicht auszuschließen, dass die Gazzetta morgen darüber
berichten würde. Sie hatten das Wochenende damit verbracht,
die Identität der ermordeten Frau zu ermitteln, und waren
tatsächlich erfolgreich gewesen. Bei der angeblichen Lucrezia
Venezia handelte es sich um eine gewisse Julia Dossi aus Castello,
die ihre Bekanntschaften meist im Mulino gemacht hatte. Sie hatte
keinen Zuhälter, arbeitete auf eigene
Rechnung und empfing ihre Kunden entweder in ihrer Wohnung oder in
der Pensione Seguso. Tron vermutete, dass sie die beiden
Männer aus dem getarnten Stundenhotel ebenfalls im Mulino
kennengelernt hatte, aber dort liefen die Ermittlungen ins Leere.
Es gab zu viele Männer mit schwarzen Halbmasken, die dort
verkehrten.
Im Grunde waren sie
keinen Schritt weiter gekommen. Nur, dass es zur Gewissheit
geworden war, dass ein Verrückter die Stadt durchstreifte und
jederzeit erneut zuschlagen konnte — eine grauenhafte
Vorstellung. Tron fragte sich, wie lange es Spaur gelingen
würde, diese Morde aus der Statistik herauszuhalten. Auf jeden
Fall würde der Polizeipräsident ihn
höchstpersönlich für die Verbrechen verantwortlich
machen.
Trons
vormittägliche Besuche im Florian folgten einer festen
Routine. Er betrat das Café um halb zehn, unter dem Arm die
neuesten Manuskripte für den Emporio della
Poesia. Nach der Inspektion der Torten
ließ er sich im maurischen Salon nieder. Die nächsten
anderthalb Stunden las er, wobei er die Gäste im Auge behielt,
die das Café betraten. Trugen sie ausländische
Zeitungen unter dem Arm? Dachten sie, die kaiserlichen
Behörden würden die Lektüre von subversiven Gazetten
einfach hinnehmen?
Gegen elf, wenn die
meisten Tische besetzt waren, erschien ein uniformierter Sergente
aus der Wache an der Piazza. Gemeinsam gingen sie dann durch die
Räume. Die Fremden protestierten fast nie, wenn Tron sie
darauf hinwies, dass das kaiserliche Zensurdekret untersagte,
ausländische Zeitungen einzuführen. Und er sie im Namen
des Allerhöchsten konfiszieren müsse.
Heute hatte sich der
Fischzug gelohnt. Auf Trons Tisch lagen der Moniteur, die Times, die Kreuzzeitung und die Revue de
Marseille. Alle umsonst! Eine wahre Freude
für einen leidenschaftlichen Zeitungsleser, wie Tron es war.
Er begann die Lektüre mit der Times und fand auf der zweiten Seite
einen Artikel mit der Überschrift: Massaker in
Castelvetrano. Piemontesische Truppen hatten
Aufständische verfolgt, diese waren entkommen, woraufhin der
Kommandant der Einheit eine exemplarische Strafaktion in dem
nahegelegenen Castelvetrano befohlen hatte. Die Bilanz bestand in
knapp hundert toten Zivilisten. Die Hälfte von ihnen waren
Frauen und Kinder. Tron schüttelte entsetzt den
Kopf.
Wie glücklich
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