Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
und sein Kopf war vollständig
klar. Aber seiner Bewegung eine gewisse alkoholbedingte
Unsicherheit zu verleihen schien ihm eine gute Idee zu sein. Also
überquerte er die Piazza mit wankenden Schritten. Dicht vor
der schweren Eichentür des Glockenturmes blieb er stehen,
lehnte sich mit der linken Hand an die Tür und ließ den
Kopf hängen - die typische Haltung eines Mannes, der ein wenig
über den Durst getrunken hatte. Dann zog er den Dietrich aus
der Tasche, schob ihn in das Schloss. Er drehte ihn ein paarmal hin
und her und fand die entsprechende Vorhaltung sofort. Es war, wie
er es erwartet hatte. Das Schloss ging so leicht auf wie eine
Pralinenschachtel. Er ließ die Vorhaltung wieder
zurückschnappen und drehte sich langsam um. Niemand hatte ihn
beobachtet. Er schätzte, dass er in spätestens zwei
Stunden wieder zurück sein würde — dann allerdings
in Begleitung. Und dass sich niemand für einen Signore und
eine Signorina interessieren würde, die das beneidenswerte
Privileg hatten, den Glockenturm außerhalb der normalen
Öffnungszeiten zu besteigen. Allenfalls ein paar ahnungslose
Fremde mochten ihn vielleicht bitten, sich dem Aufstieg
anzuschließen. Ein Ansinnen, das er höflich, aber
bestimmt ablehnen würde. Für das, was er vorhatte, konnte
er keine Zeugen brauchen.
Er schob den Dietrich
in die Tasche zurück und lief langsam bis zur Mitte der
Piazza. Zwischen einer Gruppe kaiserlicher Offiziere und dem
Kohlenbecken eines Maronenverkäufers blieb er stehen und
dachte kurz nach. Das Zanetto, das er sehr schätzte, kam nach
der Nummer auf der Gondel nicht mehr in Betracht, und
Entsprechendes galt auch für das Mulino und das Stella. Nicht
dass die Signorinas dort misstrauischer gewesen wären als auf
anderen Maskenbällen — er selbst hätte sich dort
unbehaglich gefühlt. Schließlich entschied er, sein
Glück im Castello zu versuchen. Es lag an der Riva degli
Schiavoni, nur ein paar hundert Schritte vom Danieli entfernt, und
galt als ausgesprochen teuer. Aber warum nicht? Seine Kleidung war
tadellos, der saftige Eintrittspreis, der für eine gewisse
Exklusivität sorgen sollte, war kein Problem für ihn.
Außerdem amüsierte es ihn, dass sich das Castello in der
Nähe der Questura befand.
Als er in die Riva
degli Schiavoni einbog, schlug ihm auf einmal ein kühler Wind
entgegen. Der dunkelgraue Nachthimmel über ihm war
aufgerissen, und zwischen fliehenden Wolken zeigten sich ein
blasser Halbmond und ein paar Sterne. Der Blick vom Campanile auf
die Stadt musste an diesem Abend atemberaubend sein! Das war dem
Tier in ihm natürlich völlig gleichgültig. Er
hingegen würde es begrüßen, wenn ein wenig
Mondschein dem Unternehmen einen Einschlag ins Romantische
gäbe. Schließlich war er verrückt.
Kurz bevor er das
Castello betrat, setzte er seine neue Maske auf. Sie war hellblau,
hatte einen aufgemalten roten Schnurrbart und Augenbrauen aus
Goldlametta. Die Maske war ungeheuer auffällig und ließ
nur einen einzigen Schluss zu: dass ihr Träger nicht alle
Tassen im Schrank hatte.
*
Dass mit dem Burschen
etwas nicht stimmte, sah sie sofort. Er stand, ein Weinglas in der
Hand, direkt vor dem kleinen Podium, auf dem ein Salonorchester
gerade einen Walzer spielte, und trug eine blaue Halbmaske mit
einem aufgemalten roten Schnurrbart. Ein Dummkopf, vermutlich
jemand, der gerade erst in der Stadt eingetroffen war und nicht
wusste, wie man sich kleidete. Denn das decorum verlangte auch im Karneval, dass
sich ein cavaliere an gewisse Regeln
hielt, speziell im Castello, in dem sich vorwiegend gehobenes
Publikum einfand. Hier trug man gediegene Abendanzüge oder
Fracktoilette, dazu unauffällige schwarze Halbmasken. Alles
andere sah an einem Signore einfach albern aus. Veronica Franco
fragte sich, wie der Bursche es mit dieser Maske überhaupt
geschafft hatte, an dem Portier vorbeizukommen. Im Castello sah man
sich die Gäste genau an, bevor man sie über die Schwelle
ließ. Andererseits herrschte im Moment ein gewisses Unbehagen
bei Gästen mit schwarzen Halbmasken.
Sie hatte weder die
Kollegin, die es auf der Gondel erwischt hatte, noch die Tote in
der Pensione Seguso gekannt. Signorinas, die im Zanetto oder im
Mulino arbeiteten, verkehrten normalerweise nicht im Castello, sie
selbst würde sich nie freiwillig in einen billigen Schuppen
wie das Zanetto begeben. Aber natürlich hatte die Buschtrommel
dafür gesorgt, dass sich die Nachricht von beiden Morden wie
ein Lauffeuer verbreitet hatte.
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