Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Mein Gott, was dachte sich dieser
Bursche dabei, seine Opfer regelrecht auszuweiden? Und warum tappte die
Polizei — wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte
— immer noch im Dunkeln? Weil der Bursche mit seiner
schwarzen Maske, die halb Venedig trug, eine perfekte Tarnung
hatte? Und weil er sich völlig unberechenbar verhielt, weil er
verrückt war? So verrückt, dass er seine Opfer, nachdem
er sie erwürgt hatte, ausweidete ?
Veronica Franco schüttelte sich. Nein, da waren ihr
Dummköpfe mit hellblauen Masken lieber.
*
Eine gute Stunde
später stand sie an einem Ort, an den selbst ihre wildesten
Träume sie nie befördert hätten, und fand es
wunderbar. Jedenfalls nachdem sich ihr Atem und Puls wieder
beruhigt hatten. Bei der zweihundertsten Stufe hatte sie entnervt
aufgehört zu zählen und sich gefragt, warum sie sich auf
diesen Wahnsinn eingelassen hatte. Eine völlig
überflüssige Frage, denn die Antwort befand sich in ihrer
Tasche: zwei Lire in Gold. Also ungefähr die Summe, die sie,
wenn die Geschäfte gut liefen, normalerweise in einer Woche
verdiente.
Der Bursche mit der
blauen Maske hatte sie angesprochen, als sie sich gerade einer
Gruppe von lüsternen Offizieren in Zivil näherte. Er
hatte sie, von der Seite herantretend, an der Schulter berührt
- etwas, das sie normalerweise nicht ausstehen konnte. Aber sein
Angebot war interessant gewesen. Ungewöhnlich, aber
interessant. Die Details hatten sie noch im Castello geregelt, den
vereinbarten Betrag hatte sie gleich vor der Tür kassiert.
Ihrer Aufforderung, die Maske abzunehmen, war er ohne Zögern
gefolgt, was sie davon überzeugt hatte, dass der Bursche
harmlos war. Sie würden also zusammen ein paar Stufen
hinaufsteigen, und oben würde der Bursche seine Hose
aufknöpfen. Der Rest war eine Angelegenheit von höchstens
fünf Minuten. Kein Ausziehen, kein Gegrapsche, keine
Keucherei, sondern eine schnelle, lukrative Nummer. Zwei Goldlire
konnten sich sehen lassen.
Nicht dass sie dieses
Geld nicht bereits hart verdient hatte, denn der Aufstieg hatte ihr
mehr zu schaffen gemacht, als sie erwartet hatte. Die
hölzernen Stufen hatten bei jedem Schritt geknarrt, und die
Mauern des Glockenturms hatten einen übelriechenden Dunst
ausgeströmt. Zudem hatte sie bei jeder Stufe das absurde
Gefühl gehabt, sie würden nicht hinauf-, sondern
hinabsteigen — in feuchte Kellerräume, in denen
Unaussprechliches auf sie lauerte. Was natürlich Unsinn war.
Hier oben, dreihundert Fuß über der Stadt, sah sie, dass
sie keineswegs in einem feuchten Kellergewölbe
stand.
Die Aussicht war
atemberaubend. Der Wind hatte sich gelegt, und die dunklen Wolken,
die noch am frühen Abend über die Stadt getrieben waren,
hatten sich wie Flaggschiffe einer besiegten Flotte auf das Meer
verzogen. Über der östlichen Lagune hing ein bleicher
Halbmond, der die Dächer, die Kuppeln der Kirchen und das
Wasser in ein silbriges Licht tauchte. Unter ihnen lag der
Markusplatz wie eine Spielzeug-Piazza, eingefasst in einen
schimmernden Rand aus Gaslaternen, die von oben wie winzige Kerzen
aussahen. Alles war klein, fern, seltsam entrückt und
wunderschön. Es war, wenn man mal davon absah, dass ihr noch
harte Arbeit bevorstand, romantisch hier oben, und einen Moment
lang wünschte sie sich, eines Tages nicht mit einem Mann hier
zu stehen, der sie bezahlte, sondern mit einem, der sie
...
Die Finger, die sich
plötzlich um ihren Hals legten und ihre Kehle
zusammenpressten, beendeten diesen Gedankengang abrupt. Sie
öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam keine Stimme.
Bevor sie das Bewusstsein verlor, schoss ihr ein Satz durch den
Kopf: Man
stirbt, wie man gelebt hat.
33
Oberst Reski,
Zahlmeister des an den Zattere stationierten kroatischen
Jägerregiments, verließ die Kaserne noch vor dem
Morgengrauen. Es war kalt, und über dem Giudecca-Kanal lag
eine dünne Nebeldecke, aber der Nachthimmel war klar und
wolkenlos. Er war vor zwei Stunden aus dem Casino
zurückgekehrt, hatte vergeblich versucht zu schlafen und
schließlich den Entschluss gefasst, eine Kletterpartie zu
unternehmen. Der Campanile unterstand — obwohl er von
Zivilisten bestiegen werden durfte — der
Militärverwaltung. Den Schlüssel zum Aufgang hatte er
ohne Schwierigkeiten auftreiben können.
Als er eine
Viertelstunde später den Markusplatz betrat, musste er wieder
an die Geschichte in Verona denken: Der Leutnant hatte denjenigen Teil
seines Gehirns verfehlt, den er hätte treffen
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