Coolman und ich. Voll auf die zwölf (German Edition)
wenn ich dazwischen lange Pausen mache.
Rocky Hagen ist mittlerweile bei 150 angelangt, und es sieht nicht so aus, als wenn er vorhätte, irgendwann damit aufzuhören. Die Zuschauer, die alle von ihren Plätzen aufgesprungen sind, bemerken mich gar nicht. So begeistert sind sie. Ich muss mich zwischen den Leuten hindurchdrängeln, um in die Nähe des Boxrings zu kommen. Selbst als ich zwischen den Seilen in den Ring klettere, nimmt immer noch niemand von mir Notiz, weil Rocky Hagen gerade Liegestütz Nummer 200 absolviert und dabei noch nicht einmal ansatzweise ins Schwitzen gerät.
»Und? Wie ist es da unten? Gewöhn dich schon mal dran. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du da für längere Zeit bleiben. Dann kannst du als Zebrastreifen arbeiten.« Meine Stimme ist so laut und klar, dass ich mich über mich selbst erschrecke. Das letzte Mal, dass ich auf COOLMAN gehört und so einen Spruch gebracht habe, bin ich kurz danach in einem Müllcontainer voller ungespülter Joghurtbecher einen steilen Abhang hinuntergerast.
Mit einem Schlag ist es totenstill in der Halle. Keiner will verpassen, wie Rocky Hagen reagiert.
Ich nutze den Moment der Ruhe und lasse meinen Blick über die Zuschauerränge wandern. Sie sind alle da: Anti mit ihren Hupfdohlen und Carl-Philipp, der mit seinem Stuhl schnell einen Meter von Lena wegrückt, als sich unsere Blicke begegnen. Alex und Justin haben in ihren Rollstühlen Behindertenplätze ganz vorn am Ring. Der Alligator und Adolf sitzen ebenfalls in der ersten Reihe und winken mir aufmunternd zu. Major Horst ist mit seiner ganzen Kompanie in der Halle eingerückt und besetzt mit seinen Soldaten die hinteren Ränge. Sogar Kathrin ist mit dem Krankenhausarzt und dem kleinen Kai gekommen. Das Baby liegt in seinem Kinderwagen und schläft.
Aber da ist er der Einzige. Mal abgesehen von Kauffmann, der in meiner Ringecke vor sich hin dämmert und mal wieder überhaupt nichts mitkriegt.
»GRRRR!«, fauche ich angriffslustig ins Publikum, weil ich der Bergschulen-Tiger bin. Das bin ich meinem Ruf schuldig.
Erschrocken zucken die Zuschauer zurück.
Der Einzige, der nicht zuckt, ist Rocky Hagen.
Der ist mittlerweile aufgestanden und sogar noch größer, als ich erwartet hatte.
Ich reiche Rocky Hagen gerade mal bis zum Kinn. Auf der Spitze seines Kinns ist der Abdruck eines Kussmundes zu sehen. Anti hat Wort gehalten und ihn auf dem Weg von der Umkleide in den Ring aufs Kinn geküsst. Jetzt weiß ich genau, wo ich hinschlagen muss, und kann nur hoffen, dass er sich während des Kampfes nicht genauso schnell bewegt wie die toten Schweinehälften gestern im Kühlhaus.
»GRRRRR!«, fauche ich noch einmal, aber auch mein zweiter Versuch scheint Rocky Hagen überhaupt nicht zu beeindrucken.
»Wenn ich mit dir fertig bin, ziehe ich dir das Fell ab, stopfe dich mit Toilettenpapier aus und stell dich bei mir daheim neben den Fernseher, du Schmusekätzchen!«
Obwohl er das nur flüstert, hat es jeder gehört.
Der Ringrichter schiebt sich schnell zwischen uns, weil er Angst hat, dass mich Rocky Hagen noch vor dem ersten Gong umhaut. Erst jetzt erkenne ich, dass der Ringrichter unser Bürgermeister ist. Und nicht nur das: Er ist außerdem Lenas Vater, und das lässt meine Chancen in diesem Kampf von 0 auf -10 sinken, weil der Bürgermeister und ich uns nicht so besonders gut verstehen. Um ehrlich zu sein, verstehen wir uns überhaupt nicht, und das beweist er auch gleich, als er dem Publikum die Kämpfer vorstellt.
»In der roten Ecke des Champions der legendäre, einzigartige und unvergleichliche Rocky Hagen! Applaus! Applaus! Applaus!«, brüllt Lenas Vater, so laut er nur kann, und bringt damit die Halle zum Toben. Nachdem der Beifall etwas verklungen ist, murmelt er kaum hörbar: »Und in der anderen Ecke sein chancenloser Herausforderer, dessen Namen ihr euch gar nicht erst merken müsst.«
Als Antwort ertönen nur ein paar vereinzelte Anfeuerungsrufe von Alex, Justin, dem Alligator und Adolf Schmitz. Wenn Major Horst seinen Soldaten nicht befehlen würde, wenigstens höflich zu klatschen, wäre es noch stiller. Sogar Anti und ihre Cheerleader-Truppe drohen zum Feind überzulaufen. Ihr »Kai, Kai, Kai haut Rocky Hagen zu Brei!« klingt längst nicht mehr so enthusiastisch wie vorhin auf dem Schulhof, und ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass da ein Zusammenhang mit den Muskelbergen meines Gegners besteht. Sein Hals, um den er ein Goldkettchen mit Kreuz trägt, sieht aus wie der
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