Copy
nichts erkannte, kamen aus dunklen, unbewussten Regionen des Gedächtnisses. Einige von ihnen fühlten sich an wie ein Vorausahnen der Vergangenheit, andere wie Erinnerungen an die Zukunft. Die Sache wurde recht unangenehm, insbesondere als die Perzeptronranken bei der letzten und tiefsten Phase des Prägens durch beide Nasenlöcher glitten – diese Phase nennt man »Atem des Lebens«.
Nells Stimme erklang.
»Wieder ein Anruf, diesmal von Malachai Montmorillin.«
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Die Ranken lösten fast Brechreiz aus, als ich brummte:
»Ich kann mir Pals Delirien jetzt nicht anhören.«
»Er scheint sehr dringend zu sein…«
»Ich habe nein gesagt! Benutz den Abwimmel-Avatar. Irgendwas. Halt ihn mir vom Leib, bis ich heute Abend die Arbeit beende!«
Vielleicht hätte ich nicht so vehement reagieren sollen. Die gleichen intensiven Gefühle könnten sich auf den Schwarzen übertragen. Außerdem, Pal konnte nichts dafür, dass er so war, wie er war.
Aber ich hatte keine Zeit für seine verrückten Spiele. Manchmal muss man sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren.
GOLEM-HEIM
… ODER WIE DER GRAUE NUMMER ZWEI MEHR SPASS BEKOMMT, ALS ER SICH WÜNSCHT…
Die Regenbogen-Lounge hat einen Retro-Namen und Revo-Gäste. Wenn man an dem Flackerzeichen KEINE REALPERSONEN ERLAUBT vorbeigeht, fühlt es sich an, als wäre man plötzlich in einem albtraumhaften SF-Film aus dem zwanzigsten Jahrhundert, voller herumtollender Mutanten und grinsender Androiden.
Abgesehen von der Warnung gibt es natürlich mehr Dinge, die Archis fern halten. Realfleisch hält nicht die heftigen Rhythmen des vibrierenden Tanzbodens aus. Stakkatoblitze schleudern gleißende Lichtbögen, die organische Neuronen zur Raserei bringen. Hundert rauchende Aschepfeifen füllen die Luft mit einem Ruß, der in realen Lungen Tumore bewirken könnte. Der Gestank, der auf Ditos leicht berauschend wirkt, muss gefiltert werden, bevor er nach draußen abgeleitet wird.
Damals in der Ein-Körper-Zeit war der Samstag ein besonderer Tag. Heutzutage herrscht in Lokalen wie dem Regenbogen immer Hochbetrieb, rund um die Uhr und auch am Dienstagnachmittag. Immer wieder treffen neue Ditos ein, von den Kilns ihrer Eigentümer für hartes Vergnügen gebacken, ausgestattet mit Verzierungen, die von türkischen Ornamenten bis zu Moiré-Mustern reichen – die Haut wird zu einem Kunstwerk. Einige Dits kommen in der Gestalt protziger Sex-Karikaturen oder weisen schaurige Accessoires auf, zum Beispiel rasiermesserscharfe Krallen oder einen Mund, aus dem Säure tropft.
»Möchten Sie einen Kopf-Bon?« Das rote Barmädchen hinter dem Tresen bietet mir ein rotes Etikett an. Neben den Kleiderstangen gibt es Kühlfächer. Ein Etikett für die Schädelaufbewahrung gewährleistet, dass Gewalterinnerungen später genossen werden können.
»Nein, danke«, erwidere ich. Und ja, ich gebe zu, dass ich solche Lokale besucht habe. He, wer bringt heute seine Jugend hinter sich, ohne hedonistische Tiefen zu erkunden, die selbst Nero beschämt hätten? Und warum auch nicht, wenn nichts anderes zurückbleibt als die Erinnerung? Und selbst das ist freigestellt. Nichts, was mit dem Dito passiert, kann dem realen Selbst schaden.
Solange man gewisse Gerüchte ignoriert…
Viele werden geradezu süchtig nach der Intensität – der Inload von Erlebnissen, die für gewöhnliches Protoplasma zu rau sind. Insbesondere die Beschäftigungslosen geben ihr Violettes Geld aus, um der Langeweile des modernen Lebens zu entrinnen.
»BITTE WARTEN SIE DORT DRÜBEN, DitMorris. Ich komme gleich zu Ihnen.«
Ich erwache aus meinen Überlegungen und sehe meine Begleiterin an, eine weitere Dit-Frau. Trotz des Lärms gelingt es ihr erstaunlich gut, sich verständlich zu machen. In die Wände integrierte Schallinterferenzdämpfer formen für ihre Worte einen Kanal, damit sie meine Ohren erreichen. Ein technisches Wunderwerk, das man für selbstverständlich halten kann, wenn man zufällig der Inhaber des Lokals ist.
»Wie bitte? Wo soll ich warten?«
Queen Irenes roter Golem deutet erneut über Tanzfläche und Grollgrube hinweg. Diesmal sehe ich einen leeren Tisch mit dem blinkenden Hinweis RESERVIERT.
»Dauert es lange? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Dieser Ausdruck hat für ein Geschöpf wie mich besondere Bedeutung, denn immerhin bin ich zum Tod verurteilt, zum Nutzen meines Schöpfers. Doch die Frau neben mir zuckt nur mit den Schultern und verschwindet dann
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