Coraline
hatte den Arm um ihre Mutter gelegt.
Aus dem Spiegel starrten Coralines Eltern sie an. Ihr Vater machte den Mund auf und sagte etwas, aber sie konnte überhaupt nichts hören. Ihre Mutter hauchte von innen gegen das Spiegelglas, sodass es beschlug. Und bevor das wieder verschwand, schrieb sie mit der Spitze ihres Zeigefingers ganz schnell:
Der Nebel auf der Innenseite des Spiegels verschwand und mit ihm auch ihre Eltern. Im Spiegel waren jetzt nur noch der Flur zu sehen und Coraline und der Kater.
»Wo sind sie?«, fragte Coraline den Kater.
Der Kater gab keine Antwort, aber Coraline konnte sich seine Stimme vorstellen, mit der er so trocken wie eine tote Fliege auf einer Fensterbank im Winter sagte: Na, was meinst du wohl?
»Sie kommen nicht wieder, oder?«, sagte Coraline. »Jedenfalls nicht aus eigener Kraft.«
Der Kater blinkerte mit den Augen. Coraline fasste das als Bestätigung auf.
»Na schön«, sagte sie. »Da bleibt mir wohl nur noch eins.«
Sie ging ins Arbeitszimmers ihres Vaters und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dann nahm sie den Telefonhörer, schlug das Telefonbuch auf und rief das Polizeirevier an.
»Polizei«, sagte eine barsche Männerstimme.
»Hallo«, sagte Coraline. »Ich heiße Coraline Jones.«
»Es ist ein bisschen spät für dich, um noch auf zu sein, junge Dame, meinst du nicht?«, sagte der Polizeibeamte. »Jetzt ist doch schon längst Schlafenszeit.«
Coraline wollte sich nicht ablenken lassen. »Kann schon sein«, sagte sie, »aber ich rufe an, um ein Verbrechen zu melden.«
»Und was für ein Verbrechen soll das sein?«
»Entführung. Kidnapping. Nein, eigentlich Elternnapping. Meine Eltern sind gestohlen worden und wurden in eine Welt hinter dem Spiegel bei uns im Flur verschleppt.«
»Und weißt du auch, wer sie gestohlen hat?«, fragte der Polizeibeamte. Coraline konnte das Lächeln in seiner Stimme hören und sie gab sich ganz besondere Mühe, sich erwachsen anzuhören, damit er sie ernst nahm.
»Ich glaube, meine andere Mutter hat sie sich gekrallt. Möglicherweise will sie meine Eltern behalten und ihnen schwarze Knöpfe auf die Augen nähen, aber vielleicht hat sie meine Eltern auch nur dazu, um mich zurückzulocken, damit sie mich wieder in die Finger kriegt. Das weiß ich nicht so genau.«
»Ah! Ihre schurkischen Finger mit den teuflischen Krallen, nicht wahr?«, sagte er. »Hmhm. Weißt du, was ich da vorschlage, Miss Jones?«
»Nein«, sagte Coraline. »Was?«
»Du bittest deine Mutter, dir eine schöne, große Tasse heißen Kakao zu machen und dich ganz fest in die Arme zu nehmen. Um Albträume zu vertreiben, hilft nichts so gut wie heißer Kakao und eine Umarmung. Und wenn sie mit dir schimpft, weil du sie zu dieser nachtschlafenden Zeit geweckt hast, dann sagst du ihr einfach, dass die Polizei dir das geraten hat.« Er hatte eine tiefe, beruhigende Stimme.
Coraline war aber nicht beruhigt.
»Wenn ich sie sehe«, sagte sie, »werd ich’s ihr ausrichten.« Und sie legte den Hörer auf.
Der schwarze Kater, der während des ganzen Gesprächs auf dem Boden gelegen und sich das Fell geputzt hatte, stand jetzt auf und führte sie in den Flur.
Coraline ging noch einmal in ihr Zimmer und zog sich ihren blauen Morgenmantel und Pantoffeln an. Auf der Suche nach einer Taschenlampe schaute sie unter dem Waschbecken nach und fand auch eine, aber die Batterien waren schon ziemlich verbraucht und die Taschenlampe leuchtete nur noch mit einem schwachen, strohfarbenen Schimmer. Coraline legte sie wieder hin, suchte die Schachtel mit den weißen Wachskerzen-für-den-Notfall hervor und steckte eine davon in einen Kerzenhalter. Sie stopfte sich einen Apfel in jede Tasche. Dann griff sie nach dem Schlüsselbund und nahm den schwarzen Schlüssel ab.
Sie ging in die gute Stube und betrachtete die Tür. Sie hatte das Gefühl, dass die Tür sie ansah, was – wie sie genau wusste – albern war, aber auf einer tieferen Ebene wusste sie, dass es doch irgendwie stimmte.
Noch einmal ging sie in ihr Zimmer zurück und durchwühlte ihre Jeanstaschen. Sie holte den Stein mit dem Loch in der Mitte hervor und steckte ihn in die Tasche ihres Morgenmantels.
Mit einem Streichholz zündete sie den Kerzendocht an und sah zu, wie er zischte und aufflammte. Dann nahm sie den schwarzen Schlüssel in die Hand. Er fühlte sich kalt an. Sie steckte ihn ins Schlüsselloch der Tür, drehte ihn aber nicht herum.
»Als ich noch klein war«, erzählte Coraline dem Kater, »vor langer,
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