Coraline
sprichst?«
»Was habe ich doch für ein Glück«, sagte der Kater, »in Gesellschaft einer so weisen und intelligenten Gefährtin unterwegs zu sein.« Sein Tonfall blieb spöttisch, aber er sträubte das Fell und an seinem Schwanz standen die Haare hoch.
Coraline wollte gerade etwas sagen, so was wie Entschuldige oder War der Weg das letzte Mal nicht viel kürzer? , aber da ging die Kerze so plötzlich aus, als wäre sie von unsichtbarer Hand gelöscht worden.
Huschen und Trappeln war zu hören und Coraline spürte, wie ihr das Herz gegen die Rippen pochte. Sie streckte eine Hand aus – und etwas Dünnes, Zartes strich ihr wie Spinnweben über die Hände und das Gesicht.
Am Ende des Korridors ging das elektrische Licht an, verbreitete grelle Helligkeit nach dem Dunkel. Ein Stück vor Coraline stand eine Frau, die vor dem Licht nur als Silhouette zu erkennen war.
»Coraline? Liebling?«, rief sie.
»Mum!«, sagte Coraline. Sie war zutiefst erleichtert und lief voller Eifer auf sie zu.
»Liebling«, sagte die Frau, »wieso bist du denn vor mir weggelaufen?«
Coraline war schon zu nahe, um noch anhalten zu können, und die kalten Arme der anderen Mutter umschlangen sie. Steif und zitternd stand sie da, während die andere Mutter sie ganz fest drückte.
»Wo sind meine Eltern?«, fragte Coraline.
»Wir sind doch hier«, sagte ihre andere Mutter mit einer Stimme, die der ihrer richtigen Mutter so ähnlich war, dass Coraline sie kaum unterscheiden konnte. »Wir sind hier. Und wir wollen dich lieben und mit dir spielen und dir zu essen geben und dein Leben interessant machen.«
Coraline wich zurück und die andere Mutter ließ sie widerstrebend los.
Der andere Vater, der im Flur auf einem Stuhl gesessen hatte, stand auf und lächelte. »Komm in die Küche«, sagte er. »Ich mache uns einen Mitternachtsimbiss. Und du möchtest doch bestimmt etwas zu trinken – einen schönen, heißen Kakao vielleicht?«
Coraline ging den Flur entlang, bis sie ganz hinten zum Spiegel kam. Das Spiegelbild zeigte nichts als ein Mädchen mit Morgenmantel und Pantoffeln. Das Mädchen sah aus, als hätte es vor kurzem geweint, aber es hatte richtige Augen, keine schwarzen Knöpfe, und es hielt eine erloschene Kerze in einem Kerzenhalter fest in der Hand.
Sie betrachtete das Mädchen im Spiegel und das Mädchen im Spiegel erwiderte ihren Blick.
Ich will mutig sein, dachte Coraline. Nein, ich bin mutig.
Sie stellte den Kerzenhalter ab und drehte sich um. Die andere Mutter und der andere Vater sahen sie mit hungrigem Verlangen an.
»Ich brauche keinen Imbiss«, sagte sie. »Ich hab einen Apfel dabei. Seht ihr?« Und sie holte aus der Tasche ihres Morgenmantels einen Apfel und biss mit einer Lust und Begeisterung hinein, die sie nicht wirklich empfand.
Der andere Vater machte ein enttäuschtes Gesicht. Die andere Mutter lächelte. Dabei wurde ihr vollständiges Gebiss sichtbar und jeder einzelne Zahn war ein klein wenig zu lang. Die Lampen im Flur ließen ihre schwarzen Knopfaugen funkeln und glitzern.
»Ihr macht mir keine Angst«, sagte Coraline, obwohl sie in Wirklichkeit große Angst vor ihnen hatte. »Ich will meine Eltern wiederhaben.«
Es kam ihr so vor, als würde die Welt an den Rändern leicht flimmern.
»Was sollte ich denn mit deinen komischen alten El tern anfangen? Wenn sie dich verlassen haben, Coraline, dann deshalb, weil sie dich leid waren oder weil du ihnen langweilig geworden bist. Also, mir wirst du niemals langweilig werden und ich werde dich nie verlassen. Hier bei mir wirst du immer sicher und geborgen sein.« Die schwarzen Haare der anderen Mutter sahen immer so aus, als wären sie nass, und sie wanden sich um ihren Kopf wie die Tentakel eines Meereswesens im tiefen Ozean.
»Ich bin ihnen nicht langweilig geworden«, sagte Coraline. »Du lügst. Ihr habt sie gestohlen.«
»So was Dummes, Coraline. Es geht ihnen gut, wo immer sie auch sein mögen.«
Coraline sagte nichts und funkelte ihre andere Mutter nur böse an.
»Das kann ich dir beweisen«, sagte die andere Mutter und strich mit ihren langen, weißen Fingern über den Spiegel. Er trübte sich, als hätte ein Drache ihn angehaucht, und wurde dann wieder klar.
Im Spiegel war es schon Tag. Coraline konnte den ganzen Flur entlang bis zur Eingangstür sehen. Die Tür wurde von außen geöffnet und Coralines Eltern kamen herein. Sie hatten Koffer dabei.
»Das war ein schöner Urlaub«, sagte Coralines Vater. »Es ist doch sehr angenehm, Coraline
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