Coraline
los zu sein«, sagte ihre Mutter mit einem glücklichen Lächeln. »Jetzt können wir all das tun, zum Beispiel ins Ausland reisen, was wir immer schon machen wollten, woran wir aber gehindert wurden, weil wir eine kleine Tochter hatten.«
»Und«, sagte ihr Vater, »es ist doch ein großer Trost zu wissen, dass ihre andere Mutter besser für sie sorgt, als wir es jemals gekonnt hätten.«
Der Spiegel beschlug und verblasste und zeigte wieder nur die Nacht.
»Siehst du?«, sagte ihre andere Mutter.
»Nein«, sagte Coraline. »Ich seh’s nicht. Und ich glaub’s auch nicht.«
Sie hoffte, dass das, was sie gesehen hatte, nicht echt war, aber sie war nicht so sicher, wie sie klang. In ihr nagte ein kleiner Zweifel wie ein Wurm in einem Apfel, ganz innen im Kerngehäuse. Dann schaute sie auf und sah den Gesichtsausdruck ihrer anderen Mutter. Echter Zorn flammte darin auf, zuckte wie ein Blitz im Sommergewitter über ihr Gesicht, und da hatte Coraline die Gewissheit im Herzen, dass das, was sie im Spiegel gesehen hatte, nur eine Täuschung war.
Coraline setzte sich aufs Sofa und aß ihren Apfel.
»Bitte«, sagte ihre andere Mutter. »Mach keine Schwierigkeiten.« Sie ging in die gute Stube und klatschte zweimal in die Hände. Es raschelte und eine schwarze Ratte kam zum Vorschein. Die Ratte sah zu ihr hoch. »Hol mir den Schlüssel«, sagte ihre andere Mutter.
Die Ratte kicherte und lief durch die offene Tür, die zu Coralines Wohnung führte.
Als die Ratte wiederkam, zerrte sie den Schlüssel hinter sich her.
»Warum habt ihr auf dieser Seite keinen eigenen Schlüssel?«, fragte Coraline.
»Es gibt nur den einen Schlüssel. Nur eine Tür«, sagte ihr anderer Vater.
»Pst«, sagte ihre andere Mutter. »Du darfst unserem Coraline-Liebling mit solchen Nichtigkeiten nicht den Kopf belasten.« Sie steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn um. Das Schloss klemmte, klickte aber zu.
Danach verwahrte sie den Schlüssel in ihrer Schürzentasche.
Draußen begann sich der Himmel zu einem strahlenden Grau zu erhellen.
»Auch wenn wir keinen Mitternachtsimbiss zu uns nehmen«, sagte die andere Mutter, »brauchen wir doch unseren Schönheitsschlaf. Ich geh wieder ins Bett, Coraline. Und ich würde dir sehr empfehlen, das auch zu tun.«
Sie legte ihrem anderen Vater ihre langen, weißen Finger auf die Schultern und dirigierte ihn zum Zimmer hinaus.
Coraline ging zu der Tür in der hintersten Ecke der guten Stube. Sie rüttelte daran, aber sie war fest verschlos sen. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer anderen Eltern war jetzt zu.
Sie war tatsächlich müde, wollte aber nicht hier schlafen. Sie wollte nicht unter demselben Dach schlafen wie ihre andere Mutter.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Coraline trat in die Morgendämmerung hinaus und ging die Steintreppe hinunter. Sie setzte sich auf die unterste Stufe. Es war kalt.
Mit einer einzigen, verstohlenen Bewegung schmiegte sich etwas Pelziges an sie. Coraline fuhr zusammen und atmete erleichtert auf, als sie sah, was es war.
»Ach, du bist’s«, sagte sie zu dem schwarzen Kater.
»Siehst du?«, sagte der Kater. »Es war doch gar nicht so schwer, mich wiederzuerkennen, oder? Auch ohne Namen.«
»Na, und was ist, wenn ich dich rufen möchte?«
Der Kater rümpfte die Nase und gab sich unbeeindruckt. »Katzen zu rufen«, vertraute er ihr an, »ist etwas, was allgemein ziemlich überschätzt wird. Genauso gut könnte man einen Wirbelwind herbeirufen wollen.«
»Und wenn es Essenszeit ist?«, fragte Coraline. »Würdest du dann nicht gerufen werden wollen?«
»Doch, natürlich«, sagte der Kater. »Aber da genügt völlig der schlichte Ruf ›Essen kommen!‹. Siehst du? Namen sind nicht nötig.«
»Warum will sie mich haben?«, fragte Coraline den Kater. »Warum will sie, dass ich bei ihr bleibe?«
»Ich glaube, sie möchte etwas zum Liebhaben«, sagte der Kater. »Etwas, das nicht sie selbst ist. Vielleicht will sie auch etwas zum Essen. Bei solchen Wesen lässt sich das nur schwer beurteilen.«
»Kannst du mir einen Rat geben?«, fragte Coraline.
Der Kater machte ein Gesicht, als wollte er noch etwas Spöttisches sagen. Dann schlenkerte er seinen Schnurrbart und sagte: »Fordere sie heraus. Du hast keine Garantie, dass sie fair spielt und sich an die Spielregeln hält, aber Wesen wie sie lieben Spiele und Herausforderungen.«
»Was sind das für Wesen?«, fragte Coraline.
Der Kater gab ihr jedoch keine Antwort. Er streckte sich nur
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