Coraline
neben ihr.
Es dauerte ein bisschen, bis ihre Augen richtig erkennen konnten, worum es sich handelte. Zuerst hielt sie es für einen Löwen, der sich in einiger Entfernung von ihr befand; dann hielt sie es für eine Maus dicht neben ihr. Und dann wusste sie, was es war.
»Ich mache einen Erkundungsgang«, teilte Coraline dem Kater mit.
Sein Fell war so gesträubt, dass die Haare senkrecht vom Körper abstanden, und er hatte die Augen weit aufgerissen, während sein Schwanz nach unten hing und zwischen die Beine geklemmt war. Er sah absolut nicht nach einer glücklichen Katze aus.
»Ein böser Ort«, sagte der Kater. »Falls man’s überhaupt als Ort bezeichnen kann, was ich verneinen würde. Was machst du hier?«
»Ich mache einen Erkundungsgang.«
»Hier gibt’s nichts zu erkunden«, sagte der Kater. »Das ist einfach nur das Draußen, der Teil des Orts, bei dem sie sich die Mühe erspart hat, ihn überhaupt zu erschaffen.«
»Sie?«
»Diejenige, die behauptet, deine andere Mutter zu sein«, sagte der Kater.
»Was ist sie?«
Der Kater gab keine Antwort, lief einfach nur neben Coraline durch den Nebel.
Vor ihnen tauchten Umrisse auf, Umrisse von etwas Großem, Dunklem, alles Überragendem.
»Du hast dich geirrt!«, sagte Coraline zum Kater. »Da ist doch etwas!«
Und dann nahmen die Umrisse im Nebel Gestalt an: ein dunkles Haus, das aus dem formlosen Weiß vor ihnen aufragte.
»Aber das ist doch –«, sagte Coraline.
»Das Haus, aus dem du gerade weggegangen bist«, bestätigte der Kater. »Genau.«
»Vielleicht bin ich im Nebel in die entgegengesetzte Richtung geraten«, sagte Coraline.
Der Kater bog die Schwanzspitze zu einem Fragezeichen und legte den Kopf schief. »Dir kann das passiert sein«, sagte er. »Aber mir bestimmt nicht. Von wegen geirrt!«
»Aber wie kann man von etwas weggehen und trotzdem darauf zugehen?«
»Das ist doch kinderleicht«, sagte der Kater. »Stell dir vor, dass jemand um die Welt läuft. Da fängt man auch damit an, dass man von etwas weggeht, und kehrt schließlich doch wieder genau dahin zurück.«
»Eine kleine Welt«, sagte Coraline.
»Für sie ist sie groß genug«, sagte der Kater. »Ein Spinnennetz muss nur gerade so groß sein, dass man Fliegen darin fangen kann.«
Coraline schauderte.
»Er hat gesagt, dass sie alle Türen und Eingänge dichtmacht«, erzählte sie dem Kater, »damit du nicht mehr hineinkommst.«
»Versuchen kann sie es ja«, sagte der Kater unbeeindruckt. »Ach ja. Soll sie’s nur versuchen.« Sie standen jetzt unter einer Baumgruppe am Haus. Diese Bäume sahen schon viel besser aus als die im Wald. »Solche Orte haben Zugänge und Ausgänge, von denen nicht mal sie etwas weiß.«
»Hat sie das Haus denn gemacht?«, fragte Coraline.
»Gemacht, gefunden – was spielt das schon für eine Rolle?«, sagte der Kater. »So oder so hat sie es jedenfalls schon sehr lange. Warte mal . . .« Ein Zucken durchlief ihn, dann machte er einen Satz und ehe Coraline sich’s versah, hockte der Kater da und drückte eine große schwarze Ratte zu Boden. »Selbst unter den günstigsten Umständen ist es ja nicht so, dass ich Ratten leiden könnte«, sagte der Kater im Plauderton, als wäre gar nichts vorgefallen. »Aber alle Ratten hier sind ihre Spione. Sie setzt sie als ihre Augen und Hände ein...«Und damit ließ der Kater die Ratte los.
Die Ratte rannte ein paar Meter und dann stürzte sich der Kater mit einem Satz auf sie, hielt sie mit einer Pfote fest und schlug mit den spitzen Krallen der anderen Pfote kräftig auf sie ein. »Dieser Teil gefällt mir besonders«, sagte der Kater vergnügt. »Soll ich’s noch mal machen? Willst du’s sehen?«
»Nein«, sagte Coraline. »Warum tust du das? Du quälst sie doch.«
»Mhm«, sagte der Kater. Er ließ die Ratte los.
Die Ratte stolperte benommen ein paar Schritte vorwärts und fing dann an zu rennen. Mit einem Schlag beförderte der Kater sie in die Luft und fing sie mit dem Maul auf.
»Hör auf damit!«, sagte Coraline.
Der Kater ließ die Ratte zwischen seine Vorderpfoten fallen. »Manche Leute«, sagte er seufzend, mit einer Stimme, die so glatt wie geölte Seide war, »vertreten die Ansicht, dass die Neigung einer Katze, mit der Beute zu spielen, durchaus etwas Barmherziges hat. Schließlich kommt es dadurch gelegentlich mal vor, dass so ein komischer, flitzender kleiner Imbiss entwischen kann. Wie oft hat dein Essen die Chance, dir zu entkommen?«
Und dann hob er die Ratte mit den
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