Coraline
wie es ihr Vater machte, wenn er nur so tat, als würde er arbeiten.
»Draußen«, sagte er. »Sie macht die Türen dicht. Wir haben nämlich ein Schädlingsproblem.« Er schien sich darüber zu freuen, jemanden zum Reden zu haben.
»Du meinst die Ratten?«
»Nein, die Ratten sind unsere Freunde. Es geht um diesen anderen. So ein großer schwarzer Kerl mit hochgerecktem Schwanz.«
»Du meinst den Kater?«
»Genau den«, sagte ihr anderer Vater.
Heute sah er ihrem wahren Vater weniger ähnlich.
Sein Gesicht hatte irgendwie etwas Konturloses – wie Brotteig, der aufgeht und bei dem sich dabei die Beulen und Risse und Vertiefungen glätten.
»Eigentlich darf ich gar nicht mit dir reden, wenn sie nicht da ist«, sagte er. »Aber keine Sorge – es wird nicht oft vorkommen, dass sie nicht da ist. Und ich werde dir unsere Gastfreundschaft so hingebungsvoll vorführen, dass du gar nicht auf die Idee kommst, je wieder von hier wegzugehen.« Er klappte den Mund zu und faltete die Hände im Schoß.
»Also, was soll ich jetzt machen?«, fragte Coraline.
Der andere Vater zeigte auf seine Lippen. Schweigen.
»Wenn du nicht mal mit mir redest«, sagte Coraline, »dann zieh ich eben auf Erkundungsgang los.«
»Zwecklos«, sagte der andere Vater. »Außer hier gibt es nichts. Sie hat nur das gemacht: das Haus, das Grundstück und die Leute im Haus. Das hat sie gemacht und einfach abgewartet.« Dann legte er verlegen den Finger an die Lippen, als hätte er schon zu viel gesagt.
Coraline verließ sein Arbeitszimmer. Sie ging in die gute Stube und zu der alten Tür, zog daran, rüttelte und zerrte. Nein, sie war fest verschlossen und die andere Mutter hatte den Schlüssel.
Sie sah sich im Zimmer um. Es war ihr so vertraut – das war ja gerade das Seltsame daran. Alles war haargenau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Die komisch riechenden Möbel ihrer Großmutter waren hier, das Bild von der Obstschale (Trauben, zwei Pflaumen, ein Pfirsich und ein Apfel) hing an der Wand, es gab den niedrigen Couchtisch mit den Löwentatzen und den leeren Kamin, der alle Wärme aus dem Zimmer zu saugen schien.
Aber es war noch etwas da. Etwas, bei dem sie sich nicht daran erinnern konnte, es schon mal gesehen zu haben. Eine Glaskugel oben auf dem Kaminsims.
Sie ging zum Kamin, stellte sich auf die Zehenspitzen und holte das Ding herunter. Es war eine Schneekugel mit zwei kleinen Figürchen darin. Coraline schüttelte sie und ließ es schneien – weißer Schnee, der glitzernd durchs Wasser wirbelte.
Dann stellte sie die Schneekugel wieder auf den Kaminsims und suchte weiter nach ihren wahren Eltern und nach einem Ausweg.
Sie verließ die Wohnung, ging an der Tür mit den blinkenden Lämpchen vorbei, hinter der die andere Miss Spink und die andere Miss Forcible in ihrer immerwährendenVorstellung auftraten, und machte sich auf den Weg in den Wald.
Wo Coraline herkam, konnte man nur die Wiese und den alten Tennisplatz sehen, wenn man durch das Wäldchen gegangen war. Hier jedoch erstreckte sich der Wald weiter und je weiter man kam, desto unfertiger wurden die Bäume und sahen immer weniger nach Bäumen aus.
Bald wirkten sie nur noch wie eine Annäherung daran, eher wie die bloße Vorstellung von Bäumen: unten ein graubrauner Stamm, darüber ein grüner Klecks, der möglicherweise aus Blättern bestand.
Coraline fragte sich, ob ihre andere Mutter sich nicht für Bäume interessierte oder ob sie sich mit diesem Teil einfach nur keine richtige Mühe gegeben hatte, weil es nicht geplant war, dass jemand so weit vordrang.
Sie ging weiter.
Und dann setzte der Nebel ein.
Er war nicht feucht wie ein normaler Nebel oder Dunst. Er war nicht kalt und er war nicht warm. Coraline hatte das Gefühl, dass sie ins Nichts hineinlief.
Ich bin Entdeckerin, hielt sie sich selbst vor. Und um hier rauszukommen, brauche ich jeden Weg, den ich nur finden kann. Also geh ich immer weiter.
Die Welt, durch die sie ging, war ein fahles Nichts, wie ein leeres Blatt Papier oder ein riesengroßer, leerer weißer Raum. Was um sie herum war, hatte keine Temperatur, keinen Geruch, keine Struktur und keinen Geschmack.
Nebel ist es jedenfalls nicht, dachte Coraline, ohne jedoch sagen zu können, was es war. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie womöglich erblindet war. Aber nein, sich selbst konnte sie klar und deutlich sehen. Doch unter ihren Füßen war kein Boden, nur nebliges, milchiges Weiß.
»Was treibst du denn hier?«, sagte eine Gestalt
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