Coraline
und hielt ihn triumphierend hoch. »Da haben wir ihn ja!«, sagte sie. »Das tue ich nur für dich, Coraline. Zu deinem Besten. Weil ich dich lieb habe. Deshalb bringe ich dir Benimm bei. Eine gute Kinderstube ist schließlich das A und O.«
Sie zog Coraline in den Flur hinaus, zum Spiegel am Ende des Flurs. Dann steckte sie den kleinen Schüssel in die Spiegelfläche und drehte ihn um .
Der Spiegel öffnete sich wie eine Tür und gab den Blick auf einen dunklen Raum dahinter frei.
»Wenn du gelernt hast, wie man sich benimmt, darfst du wieder herauskommen«, sagte die andere Mutter. »Und wenn du bereit bist, eine liebevolle Tochter zu sein.«
Sie hob Coraline hoch und stieß sie in den spärlich beleuchteten Raum hinter dem Spiegel. An ihrer Unterlippe klebte ein kleines Stück Küchenschabe und ihre schwarzen Knopfaugen waren völlig ausdruckslos.
Dann schlug sie die Spiegeltür zu und ließ Coraline in der Dunkelheit allein.
7 .
C oraline konnte spüren, wie sich irgendwo in ihrem Inneren ein gewaltiges Schluchzen Bahn brach. Und sie unterdrückte es, bevor es herauskam. Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Dann streckte sie die Hände aus und tastete den Raum ab, in dem sie gefangen war. Er war etwa so groß wie eine Besenkammer: hoch genug, um darin zu stehen oder zu sitzen, aber nicht breit oder tief genug, um sich hinzulegen.
Eine Wand bestand aus Glas und fühlte sich kalt an.
Ein zweites Mal ging Coraline den kleinen Raum durch und fuhr mit den Händen über jede Fläche, die sie erreichen konnte, tastete nach Türklinken oder Schaltern oder verborgenen Schnappschlössern – nach irgendeiner Möglichkeit, hier herauszukommen – und fand nichts.
Eine Spinne huschte ihr über den Handrücken und Coraline würgte einen Schrei hinunter. Doch abgesehen von der Spinne war sie allein im Stockdunkel der Kammer.
Und dann streifte ihre Hand etwas, was sich haarge nau so anfühlte wie kleine, kalte Lippen und eine Wange, und eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr: »Pst! Ganz still! Sag nichts. Es könnte sein, dass die alte Vettel uns belauscht.«
Coraline machte keinen Mucks.
Sie spürte eine kalte Hand an ihrem Gesicht und Finger, die wie der zarte Flügelschlag eines Nachtfalters sacht darüberglitten.
Eine andere Stimme, so zaghaft und schwach, dass Coraline nicht sicher war, ob sie sich das nur einbildete, fragte: »Bist du – bist du lebendig?«
»Ja«, flüsterte Coraline.
»Armes Kind«, sagte die erste Stimme.
»Wer seid ihr?«, flüsterte Coraline.
»Namen, Namen, Namen«, sagte eine dritte Stimme, die ganz verloren klang, wie von weit her. »Die Namen verschwinden als Erstes, nachdem der Atem vergangen ist und der Herzschlag. Wir behalten unsere Erinnerungen länger als unsere Namen. Ich sehe immer noch Bilder von meiner Gouvernante vor mir, wie sie an einem Maimorgen meinen Reifen und das Stöckchen dazu trägt und hinter ihr die Morgensonne am Himmel steht und die Tulpen sich im Wind wiegen. Aber ich weiß nicht mehr, wie die Gouvernante hieß, und ich habe auch die Namen der Tulpen vergessen.«
»Ich glaube, Tulpen haben gar keine Namen«, sagte Coraline. »Sie sind einfach nur Tulpen.«
»Mag sein«, sagte die Stimme traurig. »Aber ich war immer der Ansicht, dass diese Tulpen Namen gehabt haben müssen. Sie waren rot, und orangefarben und rot, und rot und orangefarben und gelb, wie die Glut im Kamin im Kinderzimmer an einem Winterabend. Ich kann mich noch an sie erinnern.«
Die Stimme klang so traurig, dass Coraline die Hand in die Richtung ausstreckte, aus der die Stimme kam. Und sie fand eine kalte Hand und drückte sie ganz fest.
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel. Jetzt sah Coraline – oder bildete sich zumindest ein, sie zu sehen – drei Gestalten, die so fahl und undeutlich waren wie der Mond am Taghimmel. Es waren die Gestalten von Kindern, die ungefähr ihre Größe hatten.
Die kalte Hand erwiderte den Druck. »Danke«, sagte die Stimme.
»Bist du ein Mädchen?«, fragte Coraline. »Oder ein Junge?«
Eine Pause trat ein. »Als ich klein war, hatte ich lange, gelockte Haare und trug Röcke«, sagte die Stimme dann unsicher. »Aber jetzt, wo du fragst, kommt es mir so vor, als hätte man mir eines Tages die Röcke weggenommen und mir stattdessen Hosen gegeben und die Haare abgeschnitten.«
»Über so was machen wir uns keine Gedanken«, sagte die erste Stimme.
»Dann vielleicht doch ein Junge«, fuhr die Stimme der Gestalt fort, deren Hand
Weitere Kostenlose Bücher