Coraline
Zähnen auf und trug sie in den Wald davon, hinter einen Baum.
Coraline ging wieder ins Haus.
Alles war still und leer und verlassen. Sogar ihre Schritte auf dem Teppich kamen ihr laut vor. In einem Sonnenstrahl tanzten Staubkörnchen.
Hinten im Flur war der Spiegel. Sie konnte sich selbst darin sehen, wie sie auf den Spiegel zuging. Ihr Spiegelbild sah etwas mutiger aus, als sie sich tatsächlich fühlte. Sonst war nichts im Spiegel. Nur sie im Korridor.
Sie spürte eine Hand an der Schulter und schaute auf.
Aus großen, schwarzen Knopfaugen sah die andere Mutter auf sie herab.
»Coraline, mein Liebling«, sagte sie. »Ich dachte, wir könnten heute Vormittag etwas spielen. Jetzt, wo du von deinem Spaziergang zurück bist. Himmel und Hölle? Ein Kartenspiel? Monopoly?«
»Du warst nicht im Spiegel«, sagte Coraline.
Die andere Mutter lächelte. »Spiegeln«, sagte sie, »kann man nicht trauen. Also, was wollen wir spielen?«
Coraline schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mit dir spielen«, sagte sie. »Ich will nach Hause und ich will bei meinen richtigen Eltern sein. Lass sie doch frei. Lass uns alle gehen.«
Die andere Mutter schüttelte den Kopf, wiegte ihn langsam hin und her. »Wie es schärfer nagt als Schlangenzahn«, sagte sie, »ein undankbares Kind zu haben. Doch Liebe vermag auch den stolzesten Starrsinn zu brechen.« Und sie wackelte mit ihren langen, weißen Fingern, streichelte die Luft mit ihnen.
»Ich habe nicht vor, dich zu lieben«, sagte Coraline. »Egal, was kommt. Du kannst mich nicht zwingen, dich lieb zu haben.«
»Reden wir doch darüber«, sagte die andere Mutter und sie machte kehrt und ging ins Wohnzimmer. Coraline folgte ihr.
Die andere Mutter setzte sich auf das große Sofa. Sie nahm eine Einkaufstasche, die neben dem Sofa stand, und holte eine raschelnde weiße Papiertüte heraus.
Sie hielt Coraline die Hand mit der Tüte hin. »Möchtest du eine?«, fragte sie höflich.
Coraline dachte, dass Karamellen oder Pralinen darin waren, und schaute hinein. Doch die Tüte war halb voll mit großen, glänzenden Küchenschaben, die sich nach Kräften bemühten, aus der Tüte zu entkommen, und dabei kreuz und quer übereinanderkrabbelten.
»Nein«, sagte Coraline, »ich möchte keine.«
»Wie du willst«, sagte ihre andere Mutter. Sorgfältig klaubte sie eine besonders große und schwarze Küchenschabe heraus, riss ihr die Beine aus (die sie säuberlich in einem großen Glasaschenbecher auf dem kleinen Tischchen neben dem Sofa ablegte) und steckte sich die Schabe in den Mund. Sie kaute selig darauf herum.
»Lecker«, sagte sie und nahm sich noch eine.
»Du bist ja krank«, sagte Coraline. »Krank und böse und grausig.«
»Redet man so mit seiner Mutter?«, fragte ihre andere Mutter, den Mund voller Küchenschaben.
»Du bist nicht meine Mutter«, sagte Coraline.
Ihre andere Mutter ging nicht darauf ein. »Also, ich glaube, du bist ein bisschen überdreht, Coraline. Vielleicht sollten wir heute Nachmittag ein wenig sticken oder mit Wasserfarben malen. Dann Abendessen und wenn du artig warst, darfst du vor dem Schlafengehen noch mit den Ratten spielen. Und ich lese dir eine Geschichte vor und decke dich zu und gebe dir einen Gutenachtkuss.« Ihre langen, weißen Finger flatterten wie ein müder Schmetterling sacht hin und her und Coraline schauderte.
»Nein«, sagte Coraline.
Die andere Mutter saß auf dem Sofa und kniff die Lippen so fest zusammen, dass ihr Mund nur noch ein dünner Strich war. Sie steckte sich noch eine Küchenschabe in den Mund und dann noch eine, ganz so, wie man es mit einer Tüte Schoko-Rosinen machen würde. Ihre großen, schwarzen Knopfaugen waren auf Coralines haselnussbraune Augen geheftet. An ihrem Hals und den Schultern drehten und wanden sich ihre glänzenden schwarzen Haare, als flatterten sie in einem Wind, den Coraline nicht spüren konnte.
Über eine Minute lang starrten sie einander an. Dann sagte die andere Mutter: »Was sind das für Manieren!« Sie faltete die weiße Papiertüte sorgfältig zusammen, damit keine Küchenschabe entkommen konnte, und legte sie wieder in die Einkaufstasche. Dann stand sie auf, schraubte sich immer höher und höher – sie wirkte jetzt größer, als Coraline sie in Erinnerung hatte. Sie langte in ihre Schürzentasche und holte zuerst den schwarzen Türschlüssel hervor, betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn und warf ihn in ihre Einkaufstasche. Danach fischte sie einen winzig kleinen Silberschlüssel heraus
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