Coraline
heraus. »Sie hat schon seit Langem nichts mehr verloren. Sei klug. Sei tapfer. Sei schlau.«
»Aber das ist so ungerecht«, sagte Coraline in ihrem Traum voller Zorn. »Es ist einfach ungerecht . Jetzt sollte alles vorüber sein.«
Der Junge mit dem schmutzigen Gesicht stand auf und nahm Coraline ganz fest in die Arme. »Tröste dich damit«, flüsterte er. »Du bist lebendig. Du lebst.«
Und im Traum sah Coraline, dass die Sonne untergegangen war und am dunkler werdenden Himmel Sterne leuchteten.
Coraline stand auf der Wiese und sah zu, wie die drei Kinder (zwei zu Fuß und eines fliegend) das Gras durchquerten, das im Licht eines großen Mondes silbern glänzte, und sich immer weiter von ihr entfernten.
Die drei kamen zu einer kleinen Holzbrücke, die über einen Bach führte. Dort hielten sie an, drehten sich um und winkten und Coraline winkte zurück.
Und danach kam Dunkelheit.
In den frühen Morgenstunden wachte Coraline auf. Sie war sich ganz sicher, dass sie etwas gehört hatte, irgendeine Bewegung, aber sie wusste nicht, was es war.
Sie wartete.
Draußen vor ihrer Zimmertür raschelte etwas. Ob es vielleicht eine Ratte war? Die Tür ratterte. Coraline stieg aus dem Bett.
»Verschwinde«, sagte sie scharf. »Wenn du nicht sofort verschwindest, wird es dir noch leidtun.«
Eine Pause trat ein. Dann trippelte das, was immer es auch gewesen mochte, den Flur entlang. Die Schritte waren irgendwie seltsam und unregelmäßig – falls es überhaupt Schritte waren. Coraline fragte sich, ob es womöglich eine Ratte mit einem fünften Bein war . . .
»Es ist nicht vorbei, nicht wahr?«, sagte sie zu sich selbst.
Dann machte sie die Tür auf. Das graue Licht der beginnenden Morgendämmerung zeigte ihr den gesamten Korridor. Er lag völlig verlassen da.
Sie ging zur Eingangstür und warf dabei einen hastigen Blick zu dem Kleiderschrank-Spiegel zurück, der am anderen Ende des Flurs an der Wand hing. Darin war nichts als ihr eigenes blasses Gesicht zu sehen, das ihr ernst und verschlafen entgegenblickte. Aus dem Elternschlafzimmer drangen sanfte, beruhigende Schnarchtöne, aber die Tür war zu. Alle Türen, die vom Flur abgingen, waren geschlossen. Was immer hier herumtrippelte, musste im Flur sein.
Coraline machte die Eingangstür auf und sah zum grauen Himmel empor. Sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis die Sonne aufging, und sie dachte darüber nach, ob ihr Traum wohl echt gewesen war. Dabei wusste sie das tief in ihrem Herzen bereits.
Etwas, das sie für einen Teil der dunklen Schatten unter dem Flursofa gehalten hatte, löste sich daraus hervor und stürzte auf langen, weißen Beinen in wahnsinnigen, hastenden Sätzen zur Eingangstür hin.
Vor Entsetzen blieb Coraline der Mund offen stehen und sie trat beiseite, als das Ding mit klappernden Trippelschritten an ihr vorbei aus dem Haus lief. Mit seinen allzu vielen klickenden, klappernden, trippelnden Füßen rannte es im Krebsgang davon.
Sie wusste, was es war, und sie wusste, was es wollte. In den letzten Tagen hatte sie es schon allzu oft gesehen, wie es griff und krallte und zupackte und gehorsam Küchenschaben in den Mund der anderen Mutter steckte. Fünffüßig, in der Farbe eines Knochens, mit blutroten Nägeln.
Es war die rechte Hand der anderen Mutter.
Es wollte den schwarzen Schlüssel.
13 .
C oralines Eltern schienen keinerlei Erinnerung an die Zeit zu haben, die sie in der Schneekugel verbracht hatten. Zumindest erwähnten sie nie etwas davon und auch Coraline sprach das ihnen gegenüber niemals an.
Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt bemerkt hatten, dass ihnen in der wirklichen Welt zwei Tage fehlten, und sie kam zu dem Ergebnis, dass ihnen das gar nicht aufgefallen war. Es gibt nun mal Leute, die jeden Tag und jede Stunde ganz genau verfolgen, und es gibt andere, die es damit nicht so genau nehmen. Und Coralines Eltern gehörten eindeutig zur zweiten Kategorie.
Bevor sie in jener ersten Nacht zu Hause in ihrem eigenen Zimmer schlafen gegangen war, hatte Coraline die Murmeln unter ihr Kissen gelegt. Nachdem sie die Hand der anderen Mutter gesehen hatte, ging sie wieder ins Bett, obwohl ihr zum Schlafen nicht mehr viel Zeit bleib, und sie bettete den Kopf auf das Kissen.
Dabei knirschte es leise.
Sie setzte sich auf und hob das Kissen hoch. Die Über reste der Glasmurmeln, die dort lagen, sahen wie die Eierschalen aus, die man im Frühling unter Bäumen finden kann. Wie leere, kaputte Rotkehlcheneier oder
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