Coraline
Richtung lief.
Es ging bergauf und Coraline kam es so vor, als führte ihr Lauf über eine längere Strecke, als es überhaupt möglich war. Die Wand fühlte sich jetzt warm an und gab nach und Coraline wurde sich dessen bewusst, dass sie sich anfühlte, als wäre sie mit einem zarten Daunenpelz überzogen. Und sie bewegte sich, als atmete sie. Coraline zog die Hand weg.
Im Dunkeln heulte der Wind.
Aus Angst, irgendwo dagegenzustoßen, streckte sie wieder die Hand aus und tastete nach der Wand. Diesmal berührte sie etwas Heißes, Nasses, als hätte sie jemandem in den Mund gegriffen, und sie zog mit einem kleinen Jammerlaut die Hand wieder zurück.
Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Undeutlich konnte sie zwei Erwachsene und drei Kinder als schwach schimmernde Flecken vor sich ausmachen. Und sie konnte auch den Kater hören, der auf leisen Pfoten vor ihr durch das Dunkel lief.
Und da war noch etwas, was ihr plötzlich zwischen die Füße huschte, sodass sie fast kopfüber hingeflogen wäre. Bevor sie zu Boden ging, fing sie sich wieder und nutzte ihren eigenen Schwung, um weiter in Bewegung zu bleiben. Sie wusste, dass sie vielleicht nie mehr aufstehen würde, wenn sie in diesem Korridor hinfiel. Was immer dieser Korridor auch sein mochte, er war auf jeden Fall um vieles älter als die andere Mutter. Er war tief und träge und er wusste, dass sie da war . . .
Dann tauchte Tageslicht auf und sie rannte keuchend und japsend darauf zu. »Wir sind fast da«, rief sie aufmunternd, aber im Lichtschein entdeckte sie, dass die Geistererscheinungen verschwunden waren. Sie war allein. Ihr blieb keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen, was aus ihnen geworden war. Schwer atmend torkelte sie durch die Tür und schlug sie hinter sich zu, mit einem Knall, der so laut und befriedigend war, wie man es sich nur vorstellen kann.
Coraline versperrte die Tür mit dem Schlüssel und steckte ihn wieder in die Tasche.
Der schwarze Kater kauerte in der hintersten Zimmerecke. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die rosa Spitze seiner Zunge war zu sehen. Coraline trat zu ihm hin und hockte sich neben ihn.
»Entschuldige«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich zu ihr geworfen habe, aber das war die einzige Möglichkeit, sie lange genug abzulenken, damit wir alle entkommen können. Sie hätte nie und nimmer Wort gehalten, stimmt’s?«
Der Kater schaute zu ihr auf. Dann schmiegte er seinen Kopf an ihre Hand und leckte ihr mit seiner rauen Zun ge über die Finger. Er fing an zu schnurren.
»Dann sind wir also Freunde?«, sagte Coraline.
Sie setzte sich in einen der unbequemen Lehnstühle ihrer Großmutter und der Kater sprang ihr auf den Schoß und machte es sich gemütlich. Das Licht, das durch das große Fenster fiel, war Tageslicht, das echte goldene Licht des Spätnachmittags, kein weißes, nebliges Licht. Der Himmel war grünlich blau und Coraline konnte Bäume sehen und hinter den Bäumen grüne Hügel, die am Horizont zu Lila und Grau verschmolzen. Noch nie war der Himmel so sehr Himmel gewesen, noch nie war die Welt so sehr Welt gewesen.
Coraline betrachtete die Blätter an den Bäumen und das Muster aus Licht und Schatten auf der rissigen Borke am Stamm der alten Buche draußen vor dem Fenster. Dann sah sie auf ihren Schoß hinunter, wo das üppige Sonnenlicht seine Strahlen über jedes einzelne Haar am Kopf des Katers gleiten ließ und die weißen Schnurrhaare in Gold verwandelte.
Noch nie, dachte sie, ist etwas so interessant gewesen.
All das Interessante der Welt nahm Coraline so gefangen, dass sie es kaum wahrnahm, wie sie nach unten rutschte und sich wie eine Katze im unbequemen Lehnstuhl ihrer Großmutter zusammenkuschelte. Und sie merkte auch nichts davon, dass sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
12 .
I hre Mutter rüttelte sie behutsam wach.
»Coraline?«, sagte sie. »Schätzchen, was für ein komischer Ort zum Schlafen. Und eigentlich soll das Zimmer ja nur für besondere Anlässe sein. Wir haben dich schon im ganzen Haus gesucht.«
Coraline streckte sich und blinzelte sich den Schlaf aus den Augen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin eingeschlafen.«
»Das sehe ich«, sagte ihre Mutter. »Und wo ist dieser Kater denn nur hergekommen? Als ich nach Hause kam, wartete er an der Tür. Und er ist wie der Blitz davongesaust, sowie ich die Tür aufgemacht hatte.«
»Wahrscheinlich hatte er was zu erledigen«, sagte Coraline. Dann umarmte sie ihre Mutter
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