Coraline
»Warte mal. Würde dir das hier reichen?«
»Das hier« war eine zusammengelegte Papiertischdecke mit rotem Blumenmuster, die von einem Picknick vor mehreren Jahren übrig geblieben war.
»Die ist perfekt«, sagte Coraline.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du noch mit Puppen spielst«, sagte Mrs Jones.
»Tu ich auch nicht«, gab Coraline zu. »Das ist bloß Tarnung.«
»Na, sei aber zum Mittagessen wieder da«, sagte ihre Mutter. »Viel Spaß!«
Coraline packte Puppen und einige Puppentässchen aus Plastik in eine Schachtel. Sie füllte einen Krug mit Wasser.
Dann ging sie nach draußen. Sie lief die Straße entlang, als wollte sie zum Einkaufen zu den Geschäften. Aber noch vor dem Supermarkt stieg sie über einen Zaun, lief auf einem Stück Brachland eine alte Auffahrt entlang und kroch dann unter eine Hecke. Sie musste den Weg in zwei Etappen zurücklegen, um aus dem Krug kein Wasser zu verschütten.
Es war ein großer, komplizierter Umweg, bei dem sie Bögen und Haken schlug, aber am Ende war sie sich sicher, dass ihr niemand gefolgt war.
Hinter dem verfallenen Tennisplatz kam sie wieder heraus und überquerte den Platz, zu der Wiese hin, auf der das hohe Gras im Wind schwankte. Am Rand der Wiese suchte sie nach den Brettern. Sie waren erstaunlich schwer – fast zu schwer, als dass ein Mädchen sie hätte heben können, auch wenn es alle seine Kräfte anspannte. Aber sie schaffte es. Ihr blieb keine andere Wahl. Ächzend und schwitzend vor Anstrengung, zerrte sie die Bretter beiseite, immer eins nach dem anderen, und legte ein tiefes, rundes, mit Backsteinen ummauertes Loch im Boden frei. Es roch nach Feuchtigkeit und Finsternis. Die Backsteine hatten eine grünliche Farbe und waren glitschig.
Sie breitete das Tischtuch aus und legte es sorgfältig über den Brunnen. Am Brunnenrand reihte sie im Abstand von etwa dreißig Zentimetern die Puppentassen aus Plastik auf und beschwerte sie mit Wasser aus dem Krug.
Neben jede Tasse setzte sie eine Puppe ins Gras und gab sich große Mühe, damit alles nach einer Puppengesellschaft aussah. Dann zog sie sich zurück, den Weg entlang, den sie gekommen war: unter die Hecke, über die staubige gelbe Auffahrt, hinter den Geschäften vorbei und wieder nach Hause.
Sie langte hoch, nahm den Schlüssel ab, den sie um den Hals trug, und ließ ihn an der Schnur baumeln, als wäre er einfach nur etwas, womit sie gern spielte. Dann klopfte sie bei Miss Spink und Miss Forcible an die Wohnungstür.
Miss Spink machte auf.
»Hallo, Liebes«, sagte sie.
»Ich möchte gar nicht hereinkommen«, sagte Coraline. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Hamish geht.«
Miss Spink seufzte. »Der Tierarzt sagt, dass Hamish sich tapfer schlägt«, sagte sie. »Zum Glück scheint sich die Wunde nicht entzündet zu haben. Wir können uns nicht vorstellen, woher sie stammen kann. Der Tierarzt glaubt, es war irgendein Tier, aber er hat keine Ahnung, was für eins. Mr Bobo sagt, es könnte vielleicht ein Wiesel gewesen sein kann.«
»Mr Bobo?«
»Der Herr aus dem obersten Stockwerk. Mr Bobo. Ich glaube, er stammt aus einer prächtigen alten Zirkusfamilie. Aus Rumänien oder Slowenien oder Livland oder sonst irgend so ein Land. Du lieber Himmel, ich kann sie mir nicht mal mehr alle merken.«
Bisher war Coraline gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass der verrückte alte Herr von oben tatsächlich einen Namen haben könnte. Wenn sie gewusst hätte, dass er Mr Bobo hieß, hätte sie sich keine Gelegenheit entgehen lassen, ihn so anzusprechen. Wie oft bot sich einem schließlich die Chance, einen Namen wie »Mr Bobo« laut auszusprechen?
»Ach so«, sagte Coraline zu Miss Spink. »Mr Bobo. Stimmt ja. Also«, setzte sie etwas lauter hinzu, »ich geh jetzt und spiel mit meinen Puppen. Hinterm Haus, drüben am alten Tennisplatz.«
»Das ist ja schön, Liebes«, sagte Miss Spink. Dann fügte sie in vertraulichem Tonfall noch hinzu: »Sieh aber zu, dass du den alten Brunnen im Auge behältst. Mr Lovat, der vor deiner Zeit hier gewohnt hat, ging davon aus, dass er eine halbe Meile oder noch tiefer reicht.«
Coraline konnte nur hoffen, dass die Hand das Letzte nicht gehört hatte. Sie wechselte das Thema. »Dieser Schlüssel?«, sagte sie laut. »Ach, das ist bloß ein alter Schlüssel aus unserer Wohnung. Er gehört mit zu mei nem Spiel. Deshalb trag ich ihn auch hier an dieser Schnur mit mir herum. Also, dann auf Wiedersehen.«
»Was für ein ungewöhnliches Kind«, sagte Miss Spink
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