Corbins 04 - Wer den Weg des Herzens folgt...
fragte, und genoß sein Unbehagen. »Vor ein paar Tagen.«
»Oh«, sagte Quinn nur und trank
seinen Kaffee.
Melissa hielt es nicht mehr aus.
»Wäre es denn so schlimm, wenn wir ein Kind bekämen?«
Als er aufschaute, sah sie die Qual
in seinen Augen. »Wenn das Kind überlebt, wäre es wunderbar«, erwiderte er.
»Aber oft ist das nicht der Fall, und manchmal stirbt auch die Mutter bei der
Geburt.«
Endlich hatte Melissa das Gefühl,
etwas zu begreifen. Sie drückte beruhigend Quinns Hand. »Ich habe drei Brüder«,
sagte sie leise, »und alle ihre Frauen haben Kinder. Nicht nur meine Neffen und
Nichten haben überlebt meine Schwägerinnen auch.«
Quinn wirkte keineswegs beruhigt.
»Meine Mutter war mindestens ein dutzendmal schwanger, Melissa, und jedesmal
kam es zu einer Fehlgeburt. Die letzte hat sie nicht überlebt.«
»Deine Mutter kann nicht immer
Fehlgeburten gehabt haben«, gab Melissa zu bedenken. »Sie hatte dich und Mary.«
Quinn schien etwas sagen zu wollen,
aber dann hielt er sich zurück. Nachdem fast eine Minute vergangen war,
murmelte er: »Ich wünschte, wir könnten von Seattle aus weiterfahren, Melissa,
und brauchten nie wieder nach Port Riley zurückzukehren.«
Melissa schüttelte verwirrt den
Kopf. »Das ist nicht dein Ernst.«
Quinns Miene bewies das Gegenteil,
aber Melissa verzichtete darauf, das Thema weiter zu verfolgen, als Mary mit
einem jungen Mann an den Tisch kam und ihn als Scott Murray vorstellte. Er
studierte in Seattle an der Universität von Washington und schien sehr
eingenommen von seiner neuen Bekanntschaft.
»Er denkt bestimmt, er hätte
leichtes Spiel bei Mary«, brummelte Quinn, als Mary und Scott zu einem Spaziergang
aufs Deck zurückgekehrt waren.
Alice, die sich zu ihnen gesetzt
hatte, warf Quinn einen empörten Blick zu. »Quinn Rafferty, wenn du je eine solche
Bemerkung in Marys Gegenwart machst, ohrfeige ich dich in aller Öffentlichkeit.
Sie ist ein reizendes, bildhübsches Mädchen, und es ist ganz natürlich, daß
junge Männer sich für sie interessieren.«
»Sie ist aber auch blind«, wandte
Quinn ein und schob seinen Stuhl zurück. »Ich brauche ein bißchen frische
Luft.«
Melissa, die mit Alices Ansicht,
Marys Leben so natürlich wie möglich zu gestalten, übereinstimmte, warf Quinn
einen warnenden Blick zu. »Frische Luft? Oder hast du vor, der armen Mary
nachzuspionieren?«
Seine schuldbewußte Miene sagte
alles, aber weder Melissa noch Alice hielten ihn zurück, als er den Salon
verließ. Melissa war froh, seiner düsteren Stimmung eine Weile entronnen zu
sein.
»Erzähl mir etwas über Quinns
Vater«, bat sie Alice etwas später.
Alice hob den Kopf von ihrer
Stickarbeit und sagte: »Ich habe mich immer gefragt, was der liebe Gott sich an
dem Tag gedacht hat, als er Eustice Rafferty erschuf. Er ist dem Teufel
ähnlicher als irgendein anderer Mann, den ich je gekannt habe.«
»Dann stimmt also das Gerücht, daß
er seine Frau und seine Kinder mißhandelt hat?«
Alice seufzte traurig und nickte.
»Ellen — Quinns und Marys Mutter — war meine Schwester. Sie war immer so ein
zartes, sanftes kleines Ding. Ich habe nie verstanden, was sie in diesem
ungehobelten Kerl gesehen hat, aber offensichtlich liebte sie ihn, denn sonst
wäre sie sicher nicht bei ihm geblieben.«
»Vielleicht hatte sie Angst, ihn zu
verlassen?« gab Melissa schüchtern zu bedenken.
Doch Alice schüttelte den Kopf.
»Ellen und ich hatten eine Familie — drüben im Weizenland. Ellen hätte jederzeit
nach Hause kommen können und wäre mit offenen Armen aufgenommen worden.«
Melissa runzelte die Stirn. »Es
besteht ein großer Altersunterschied zwischen Quinn und Mary.« »Sechzehn
Jahre«, bestätigte Alice.
»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte
Melissa achselzuckend. »Der jüngste meiner Brüder ist dreizehn Jahre älter als
ich. Ich war die Überraschung für die ganze Familie.«
Alice nickte. »Mary auch. Und sie
war das Licht, das Ellens elendes Leben erhellte. Ellen wurde krank, als Mary
fünf war. Damals war Quinn schon zu etwas Geld gekommen, und als seine Mutter
so schwach und krank war, kam er zurück und brachte seine Schwester zu einem
Priester und seiner Frau in Port Riley. Ich habe es ihm nicht verübelt, so wie
Eustice war, aber für Ellen war es der Anfang vom Ende. Danach gab sie auf.«
Melissa schaute zur verregneten
Küste hinüber und fragte sich, ob sie Alice vertrauen konnte. Aber dann sah sie
ein, daß ihr gar nichts anderes übrigblieb.
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