Corina 01 - Dämonisch verführt
anfangen können.
Das Mädchen häufte Erde auf die Toten und weinte um sie, selbst um jene, die es aufgrund seiner Abstammung für unrein gehalten hatten. Diese Leute waren seine Familie gewesen, beziehungsweise so viel Familie, wie es jemals gekannt hatte. Und jetzt waren sie alle tot. Schweiß und Schmutz vermischten sich mit den Tränen, und die Nase begann zu laufen, aber das Mädchen achtete nicht darauf. Es mussten noch andere Dinge erledigt werden.
Es band die Pferde los und trieb sie von der Lichtung, denn die Tradition wollte, dass sie am Leben blieben. Doch alles andere musste zerstört werden. Es war sehr mühsam, aber schließlich hatte das Mädchen alle übrig gebliebenen Teller und Gläser zerbrochen, die beiden Hunde getötet und bei den Wagen große Haufen Gestrüpp angesammelt. Es zündete das Feuer an, trat beiseite und beobachtete, wie seine bisherige Welt in Flammen aufging.
Bald würde es Hunger bekommen und sich fragen, wie es überleben sollte, wenn all das Geld und die verkäuflichen Objekte der Kumpania verflucht und somit nutzlos waren. Es würde sich fragen, wer es aufnehmen würde, denn die anderen Zigeunergruppen würden zweifellos ihm die Schuld an der Tragödie geben, so wie es sich selbst die Schuld daran zu geben begann.
Trotz seiner jungen Jahre wusste das Mädchen, dass man hinter vorgehaltener Hand über es flüsterte. Es wusste, warum der Clan es aufgenommen hatte, und wozu es fähig war. Gelegentlich einen Vampir zu töten, der versuchte, in der Kumpania ein Opfer zu finden, fiel ihm nicht schwerer als die anderen Aufgaben, die es regelmäßig erfüllen musste, wie das Sammeln von Feuerholz oder der Abwasch. Was die vergangene Nacht betraf, erinnerte es sich nur daran, dass sie sich zur üblichen Zeit schlafen gelegt hatten. Aber es gab andere leere Abschnitte in seinem Leben, und Geschichten von Dingen, die es getan hatte, ohne sich später an sie zu erinnern.
Und eine unbestreitbare Tatsache lautete: Nur das Mädchen hatte überlebt, sonst niemand.
Während es dastand, erfasste das Feuer einige nahe Bäume, aber es machte keine Anstalten, vor der Hitze zurückzuweichen. Verzweiflung stieg in ihm auf, und es wünschte sich, ebenfalls von den Flammen verschlungen zu werden. Die Kumpania hatte das Mädchen über Jahre hinweg ernährt und gekleidet und als Gegenleistung dafür nur Schutz verlangt. Es hatte dafür sorgen sollen, dass die alten Albträume, die des Nachts ihr Unwesen trieben —
Geschöpfe, gegen die nicht einmal die stärksten Roma-Männer kämpfen konnten -, ihre kleine Gruppe dezimierten.
Die Gruppe war nicht immer freundlich gewesen, hatte sich aber an die Vereinbarung gehalten. Was spielte es für eine Rolle, wenn das Mädchen aus einem getrennten Eimer trinken musste, oder die anderen vermieden, es zu berühren? Sie hatten dafür gesorgt, dass es ihm an nichts fehlte. Und welchen Lohn hatten sie dafür empfangen?
Sie waren mit eben jenem Schicksal belohnt worden, das sie hatten vermeiden wollen. Das Mädchen dachte erneut, dass es richtig gewesen wäre, sich von dem Feuer verbrennen zu lassen. Die anderen hatten recht gehabt: Es war unrein und verdankte seiner Abstammung, dass es nie etwas anderes sein konnte.
11
Als ich wieder zu mir kam, schluchzte ich an einem langen und breiten haarigen Etwas und begriff, dass es sich dabei um Olgas Bart handelte. Für einige Sekunden hielten mich Trauer und Verzweiflung noch immer fest umklammert. Ich schluckte und versuchte, mich zu konzentrieren und die Empfindungen ganz abzuschütteln. Ich atmete tief durch, dann noch einmal. Und als die Erinnerungen zurückwichen, kam mir ein sonderbarer Gedanke.
Welcher Zauber auch immer dahintersteckte, er konnte bestimmt keine so genauen Erinnerungen fabrizieren, nicht von Ereignissen, die sonst niemand gesehen hatte. Die Bilder mussten aus meinen eigenen Gedächtnistiefen stammen, was bedeutete: Meine Augen hatten jene Ereignisse tatsächlich gesehen, vor langer Zeit. Und dadurch ergab sich eine sehr wichtige Frage.
»Wo war das Blut?«, krächzte ich und setzte mich auf.
Olga sah mich komisch an, und ich erwiderte ihren Blick. Sie hatte die Vision natürlich nicht gesehen, zumindest nicht die gleiche wie ich. Aber sie stellte keine Fragen, und das war gut, denn mein Gehirn steckte bereits voll davon.
Nach der Flucht aus dem verfluchten Wald hatte ich versucht, nicht mehr daran zu denken. Die Erinnerungen hockten in einem Winkel meines Bewusstseins und waren wie ein
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