Corum 01 - Der scharlachrote Prinz
hatten sie auch keine Neuigkeiten mehr von der Außenwelt erfahren. Ein einziges Mal sahen sie einen Mabden, als Prinz Opash, ein Naturforscher und Prinz Khlonskeys Vetter ersten Grades, ein Exemplar auf Burg Erorn gebracht hatte. Der Mabden - ein Weibchen - kam in den Burgzoo, wo er wohlversorgt wurde. Trotzdem lebte er nicht mehr als fünfzig Jahre und wurde auch nicht durch ein anderes Exemplar seiner Rasse ersetzt, als er starb. Seither hatten die Mabden sich vermehrt und sogar über weite Gebiete von Broan-Vadhagh verbreitet. Gerüchte waren einmal bis Erorn vorgedrungen, daß die Mabden Vadhagh-Burgen überfallen, die Bewohner überwältigt und die Burgen dann dem Erdboden gleichgemacht hatten. Prinz Khlonskey glaubte nicht so recht daran. Außerdem hatten er und seine Familie über so viel anderes nachzudenken und zu diskutieren. Es gab unendlich viele, bedeutend angenehmere Gesprächsthemen und Dinge, mit denen sich ihre Gedanken beschäftigen konnten.
Prinz Khlonskeys Haut schien beinah milchigweiß und war so dünn, daß die Adern und Muskeln sich darunter deutlich abhoben. Vor mehr als tausend Jahren hatte er das Licht der Welt erblickt, aber erst seit kurzem machte das Alter ihm zu schaffen. Wenn seine Schwäche ihm unerträglich würde und seine Augen sich zu trüben begännen, würde er seinem Leben auf Vadhagh-Art ein Ende bereiten. Er würde sich in der Traumkammer auf die weichen Seidenkissen legen und die süßen beruhigenden Dämpfe einatmen, bis er friedlich für immer eingeschlummert war. Das Alter hatte sein Haar goldenbraun gefärbt und die Augen mit einem rötlichen Purpur und dunkelorangen Pupillen versehen. Seine Gewänder waren nun fast zu groß für seinen greisen Körper, aber wenn er auch einen Stock aus geflochtenem Platin mit Rubinmetall trug, war seine Haltung dennoch aufrecht und ungebeugt.
Eines Morgens suchte er seinen Sohn, Prinz Corum, in einem Gemach auf, in dem Musik durch eine unendlich komplexe Anordnung von offenen Röhren, vibrierenden Saiten und Wandersteinen erzeugt wurde. Die einfachen sanften Klänge verloren sich fast unter Prinz Khlonskeys Schritten, dem Tappen seines Stocks und seinem rasselnden Atem.
Prinz Corums Aufmerksamkeit wandte sich von der Musik ab und seinem Vater zu.
»Vater?«
»Corum, verzeih die Störung.«
»Aber natürlich. Außerdem bin ich ohnehin nicht recht zufrieden mit meinem Werk.« Corum erhob sich von den Kissen und hüllte sich in seinen scharlachroten Mantel.
»Mir dünkt, ich werde bald die Traumkammer aufsuchen«, begann Prinz Khlonskey. »Doch ehe ich diesen Schritt tue, hätte ich noch einen Wunsch, zu dessen Erfüllung ich deiner Hilfe bedarf.«
Prinz Corum liebte seinen Vater und respektierte seinen Entschluß, darum erwiderte er nur ernst: »Diese Hilfe sei Euer, Vater. Was ist es, das ich für Euch tun kann?«
»Ich würde gern etwas über meine Verwandten erfahren. Über Prinz Opash, der auf Burg Sarn im Osten lebt. Über Prinz Lorim im Süden, auf Burg Crachah, und über Prinz Faguin auf Burg Gal im Norden.«
Prinz Corum hob die Brauen. »Gut, Vater, wenn Ihr - «
»Ich weiß, mein Sohn. Ich weiß, was du denkst - daß ich es selbst durch die Kraft meines Geistes erfahren könnte. Doch dem ist nicht mehr so. Aus mir nicht erklärlichen Gründen ist es schwierig geworden, die anderen Ebenen zu erreichen. So sehr ich mich bemühe, ich erhalte nur ein verschwommenes Bild von ihnen, und es ist mir beinah unmöglich geworden, sie physisch zu betreten. Vielleicht ist es mein Alter - «
»Nein, Vater«, versicherte ihm Corum. »Auch ich finde es ungemein schwierig. Früher einmal war es so einfach, sich nach Belieben durch die fünf Ebenen zu bewegen. Mit etwas mehr Anstrengung konnten sogar die zehn Ebenen erreicht werden, obwohl sie, wie Euch ja bekannt, nur wenige physisch zu erreichen vermochten. Doch nun kann ich die vier Ebenen kaum noch wahrnehmen, die mit unserer eigenen das Spektrum formen, durch das unser Planet in seinem astralen Kreislauf hindurchwandert. Ich verstehe nicht, wie es zu diesem Verlust unserer Sensibilität kommen konnte.«
»Auch ich kann es mir nicht erklären.« Prinz Khlonskey schüttelte traurig das greise Haupt. »Es deutet auf eine größere Veränderung im Wesen der Natur unserer Erde hin. Und dies ist auch der Hauptgrund, weshalb ich von meinen Verwandten zu hören begehre. Vielleicht wissen sie, warum unsere Sinne nun auf eine einzige Ebene beschränkt sind. Es ist unnatürlich. Es
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