Corum 01 - Der scharlachrote Prinz
exquisiten Existenz beraubten, die sie nie zu würdigen vermöchten, deren Vernichtung ihnen nie bewußt würde.
»Wenn sie schätzen würden, was sie raubten, wenn ihnen bewußt wäre, was sie vernichteten«, sagte der alte Vadhagh in der Erzählung DIE LETZTE HERBSTBLUME, »wäre es mir ein Trost.«
Es war ungerecht.
Mit der Erschaffung des Menschen hatte das Universum die alten Rassen verraten.
Aber es war eine ewige, sich immer wiederholende Ungerechtigkeit. Das vernunftbegabte Wesen mag das Universum wahrnehmen und lieben, das Universum jedoch erwidert nichts. Es macht keinen Unterschied in der Vielfalt seiner Geschöpfe. Alle sind gleich. Keines ist bevorzugt. Das Universum, das über nichts weiter verfügt als den Stoff und die Schöpfungskraft, fährt fort zu erschaffen - wahllos. Es hat keine Kontrolle über seine Schöpfungen, und es kann, wie es scheint, von seinen Geschöpfen nicht beeinflußt werden (wenngleich manche sich dieser Täuschung hingeben).
Jene, die dem Wirken des Universums fluchen, sich dagegen aufbäumen, ihm mit den Fäusten drohen - sie fluchen und drohen nur etwas Taubem, Blindem und Unverletzlichem.
Aber das bedeutete nicht, daß es nicht solche gibt, die das Unangreifbare zu bekämpfen und zu schlagen suchen.
Manchmal sind es Geschöpfe von großer Weisheit, die es nicht ertragen, sich mit der Gleichgültigkeit des Universums abzufinden.
Prinz Corum Jhaelen Irsei war einer von ihnen. Er war der letzte der Vadhagh. Man kannte ihn auch als den Prinzen im scharlachroten Mantel. Ihm ist diese Chronik gewidmet.
DAS BUCH CORUM
DAS ERSTE KAPITEL
Auf Burg Erorn
Auf Burg Erorn lebte die Familie des Vadhagh Prinzen Khlonskey. Seit vielen Jahrhunderten war diese Burg Stammsitz der Familie. Sie liebte die launische See über alle Maßen, jene See, die gegen Erorns Nordmauern brandete, und sie liebte den unberührten Forst, welcher bis nahe an die Südflanke der Burg heranreichte.
Burg Erorn war so alt, daß sie völlig verwachsen mit dem majestätischen Felsen schien, der hoch über dem Meer thronte. Aus dem von Salzwasser geglätteten Stein erhob sie sich Turm an Turm und bot einen malerischen Anblick. Die Wände im Inneren der Burg wandelten ihre Form im Einklang mit den Elementen und änderten ihre Farbe mit dem Wechseln des Windes. Es gab Gemächer mit Kristallund Springbrunnenanlagen, welche die komplexen Musikstücke spielen konnten, die Mitglieder der Familie komponiert hatten. Es gab Galerien mit Gemälden auf Samt, auf Marmor und auf Glas, die Prinz Khlonskeys künstlerische Vorfahren gemalt hatten. Und es gab Bibliotheken, in denen sich Band an Band von Werken sowohl der Vadhagh als auch der Nhadragh reihte. Außerdem befanden sich überall in der Burg Säle mit Statuen, und es gab Volieren und Terrarien, selbst große Räume für Säugetiere. Es gab Observatorien, Laboratorien, Kinderzimmer, Gärten, Zellen zum Meditieren, Krankenund Behandlungsräume, Turnund Gymnastikhallen. Es gab Waffenkammern, Küchen, Planetarien, Museen ebenso wie Gemächer, die in ihrer Schönheit keinem besonderen Zweck dienten. Und natürlich gab es auch verschiedene Suiten für die Familienangehörigen und Wohnräume für die Gefolgsleute.
Zwölf Personen lebten auf der Burg, die einst fünfhundert beherbergt hatte. Diese zwölf waren Prinz Khlonskey, ein uralter Greis; seine Frau Colatalarna, die viel, viel jünger als ihr Gemahl aussah; Ilastru und Pholahinra, seine Zwillingstöchter; Prinz Rhanan, sein Bruder; Sertreda, seine Nichte; und Corum, sein Sohn. Die übrigen fünf waren Gefolgsleute, entfernte Vettern des Prinzen. Alle hatten die charakteristischen Vadhagh-Merkmale: schmale, lange Schädel; Ohren fast ohne Läppchen, die dicht am Kopf anlagen; feines Haar, das der geringste Windhauch wie eine dichte Wolke aus Spinnwebfäden über ihren Gesichtern aufbauschte; große mandelförmige Augen mit gelber Pupille und purpurner Iris; breite, volle Lippen, und eine intensiv rosige, seltsam goldgesprenkelte Haut. Sie waren alle groß und schlank und gut gewachsen, und sie bewegten sich mit einer beschaulichen Grazie, die den menschlichen Gang wie das Watscheln einer Ente erscheinen ließ.
Die Familie des Prinzen Khlonskey beschäftigte sich hauptsächlich mit intellektuellen und künstlerischen Spielereien und hatte schon seit weit über zweihundert Jahren keine Verbindung mehr zu anderen Vadhagh gehabt und seit gut dreihundert Jahren keinen Nhadragh gesehen. Seit einem Jahrhundert
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