Corum 04 - Das kalte Reich
Blumen und die Rhododendron, das frische Gras und die Knospen an den Bäumen. Süßlich duftendes Moos bedeckte die alten Steine, Vögel nisteten überall in den Klippen und in den Lärchen und den Erlen. Hier fand Corum noch einen zweiten Grund, Calatin dankbar zu sein. Denn die Insel war nach dem toten Wald wie eine Erlösung.
Und dann standen sie vor dem Haus. Calatin zeigte Corum, wo er sein Pferd unterstellen konnte. Dann öffnete der Zauberer eine Tür ins Haus und ließ Corum den Vortritt. Das Untergeschoß bestand nur aus einem einzigen durchgehenden, großen Raum, dessen breite Fenster verglast waren. Zur einen Seite blickten sie auf das offene Meer hinaus, während auf der anderen Seite das weiße, öde Festland zu sehen war. Corum konnte sehen, daß sich über dem Land Wolken zusammenzogen, der Himmel über dem Meer aber wolkenlos blieb. Die Wolken schienen über der Küste zu hängen, als wäre ihnen verboten, eine unsichtbare Grenze zu überqueren.
Auf Glas war Corum in anderen Teilen dieser Mabdenwelt bisher kaum gestoßen. Calatin hatte, wie es aussah, durchaus seinen Nutzen aus dem Studium der alten Lehren ziehen können. Die Decken im Haus waren hoch und wurden von steinernen Säulen gestützt, und die Räume, durch die Calatin Corum führte, waren mit Schriftrollen, Büchern, Schrifttafeln und Experimentiergerät angefüllt, wie man es bei einem Zauberer erwarten konnte.
Aber für Corum war an Calatins Besitz oder auch seiner Besessenheit nichts Dunkles oder Unheimliches. Der Mann bezeichnete sich als Zauberer. Corum hätte ihn einen Philosophen genannt, jemand, der Freude daran fand, die Geheimnisse der Natur zu erforschen und zu enträtseln.
»Hier habe ich fast alles, was von den Bibliotheken Lywman-Eshs erhalten geblieben ist, nachdem diese goldene Zivilisation unter den Fluten versank«, erzählte Calatin. »Oft wurde ich verhöhnt, und viele warfen mir vor, daß ich meinen Kopf mit unsinnigem Zeug vollstopfte, daß meine Bücher nur die Werke von Verrückten sein könnten, und daß diese Bände nicht mehr Wahrheit enthielten als meine eigenen sinnlosen Studien. Sie sagten, daß diese Geschichten nichts anderes als Legenden wären daß die Zauberbücher nur Märchen enthielten, daß das ganze Gerede über Götter und Dämonen nur poetisch, metaphorisch zu verstehen sei. Aber ich war anderer Ansicht, und ich behielt Recht damit.« Calatin lächelte kalt. »Ihr Tod gab mir recht.« Das Lächeln bekam einen anderen Ausdruck. »Trotzdem bereitet es mir keine große Befriedigung zu wissen, daß alle, die sich bei mir hätten entschuldigen können, nun von den Hunden des Kerenos zerfleischt oder von den Fhoi Myore in Eis verwandelt sind.«
»Ihr empfindet kein Mitleid für sie, nicht wahr, Zauberer?« fragte Corum. Er hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen und sah durch ein Fenster auf das Meer hinaus.
»Mitleid? Nein. Meinem Charakter entspricht es nicht, Mitleid zu fühlen. Oder Schuld. Oder irgendeines dieser Gefühle, die den anderen Sterblichen so viel bedeuten.«
»Dann fühlt ihr auch keine Schuld bei dem Gedanken, daß Ihr Euere siebenundzwanzig Söhne und Eueren Enkel in eine Reihe von fruchtlosen Abenteuern geschickt habt?«
»Sie waren nicht alle fruchtlos. Das meiste, was ich suchen ließ, befindet sich inzwischen in meinem Besitz.«
»Ich wollte damit sagen, daß Ihr Euch eigentlich dafür verantwortlich fühlen müßtet, sie alle in den Tod geschickt zu haben.«
»Ich weiß gar nicht, ob sie alle den Tod gefunden haben. Einige kehrten einfach nie zurück. Aber es ist schon so, die meisten starben. Ein bedauerliches Schicksal, gestehe ich ein. Mir wäre lieber, sie wären noch am Leben. Aber meine Interessen gelten mehr den abstrakten Dingen - dem Wissen an sich und nicht jenen gewöhnlichen Gefühlen und Bedürfnissen, die so vielen Sterblichen zu Fesseln werden.«
Corum verfolgte dieses Thema nicht weiter.
Calatin ging in dem großen Raum auf und ab und begann über seine nassen Kleider zu jammern. Er machte aber keine Anstalten, sie zu wechseln. Erst als sie getrocknet waren, wandte er sich wieder direkt an Corum.
»Ihr wollt nach Hy-Breasail, sagtet Ihr.«
»Aye. Wißt Ihr, wo diese Insel von hier aus liegt?«
»Falls es die Insel überhaupt gibt, kann ich Euch den Weg zu ihr weisen. Aber es wird erzählt, daß alle Sterblichen, die in die Nähe der Insel kommen, von zauberischem Blendwerk getäuscht werden sie sehen nichts außer vielleicht einigen Riffen und
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