Coruum Vol. 2
Einbuchtungen für die Finger und den Daumen. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass dieses Opfermesser noch nie im Blut Verurteilter gebadet hatte und das auch nie tun würde. Es war besonders.
Später! , ermahnte er sich und wandte sich ab. Sehr vorsichtig umrundete er den Tempel auf dem Innenhof, um nach weiteren Zugängen zu suchen. Es gab keine – er würde den inneren Tempel durch das gleiche Portal wie die anderen Anwesenden betreten müssen. Schnell bewegte er sich zur Wand neben dem Portal und lauschte.
Seine Hand fühlte in Kalkstuck getriebene Zähne. Sein Blick wanderte an der Portalmaske des Tempels empor. Ein starkes Gefühl des Unbehagens überkam ihn. Die kugeligen Augen des Ahau Cumku , des Gottes der Unterwelt, sahen auf ihn herab, das Gesicht mit Fäulnisblasen bedeckt von Schädeln verziert, die unterschiedlichste Blessuren aufwiesen, den Mund mit den spitzen Zähnen weit aufgerissen. Die Skulptur wirkte im Flackern des hellen, blauen Lichts beinahe plastisch. Hier befand er sich nun in der Xibalbá , der Unterwelt, dem Reich des Todesgottes.
Speer des Königs hatte ihn vor seinem Aufbruch in Coruum gut vorbereitet. Du wirst im Allerheiligsten suchen müssen , hatte er gesagt. Fürchte dich nicht vor Steingötzen oder Bildern, sie sind wichtig – aber du brauchst sie nicht zu fürchten. Achte auf den Hohepriester!
Er kroch unter dem Vorhang hindurch.
Anbeter der Unterweltgötter, Hohepriester von Tikal, saß auf der linken Seite einer weißen Steinbank. Sein Kopfschmuck aus langen, schwarz gefärbten Federn des Quetzal schimmerte und zitterte bei jeder Kopfbewegung des alten Mannes. Der Hohepriester saß aufrecht, ihm den Rücken zuwendend, die ganze Aufmerksamkeit auf eine weitere Quelle des blauen Lichts gerichtet, welches den gesamten Innenraum des kleinen Tempels erfüllte. Zur rechten Seite des Hohepriesters kniete ein jüngerer Krieger. Jaguarundi bemerkte sofort, dass dieser einen außerordentlichen Rang bekleiden musste. Kostbare mehrgliedrige Ohrringe aus Gold und Jade funkelten an seinen Ohren und ein farbenfroher Kopfputz aus Federn unterschiedlichster Vögel zierte sein Haupt.
Wieder war die neue Stimme zu vernehmen – sie sprach in einer unbekannten Zunge, die der junge Krieger noch nie zuvor gehört hatte. Er kroch langsam und äußerst bedacht weiter in den Innenraum, bis er hinter einem Bündel aus zusammengerollten Schlafmatten verharrte. Gerade hatte der Hohepriester der neuen Stimme geantwortet – langsam und stockend, in der gleichen unbekannten Zunge.
»Was sprichst du?«, ließ sich die ungeduldige Stimme des Kriegers vernehmen.
»Sei still!«, erwiderte der alte Hohepriester unwirsch und fügte noch etwas in der fremden Zunge hinzu.
Jaguarundi bewegte sich kriechend hinter den Strohmatten vor, er wollte einen Blick auf den anderen Sprecher werfen, der dort vor dem Hohepriester stehen musste.
Wenn du das blaue Licht erreichst, sei bereit, Dinge zu sehen, die neu für dich sind , hatte Speer des Königs ihm mit auf den Weg gegeben, habe keine Furcht – beobachte!
Woher hatte der Heerführer des Königs das nur wissen können? Mit zwei Fingern pulte er vorsichtig ein wenig Stroh aus einer der Matten, bis er endlich ein freies Blickfeld auf den Sprecher hatte. Er zuckte zusammen – so sehr erschrak er beim Anblick des Fremden.
Seine schwarzen Haare waren kurz – so kurz wie die eines Verlierers nach einem wichtigen Kampf, nachdem der Sieger ihm den Zopf abgeschnitten hatte. Er trug keinen Kopfschmuck und keine Ohrringe. Er war ohne Ehre! – mit wem gab sich der Hohepriester von Tikal hier ab? Auch die Kleidung war sonderbar – eine schwarze Hülle, wie bei einem Insekt – mit gelb leuchtenden Schwellungen an den Ellenbogen und Kniegelenken. Woher kam dieser Mann? Das blaue Licht entsprang einer Vertiefung im Boden unter dem Fremden. Gerade erhob er wieder die Stimme und sprach in der unbekannten Zunge. Jaguarundi registrierte bestürzt, dass Anbeter der Unterweltgötter – der höchste Priester des Volkes von Tikal – mit geneigtem Haupt regungslos zuhörte, bis der Fremde geendet hatte.
Dann entgegnete er ein paar stockende Worte, bevor er sich dem Krieger zu seinen Füßen zuwandte: »Die Zeit ist gekommen, Sonne des Königs. Der große Krieger hat mir verkündet, dass die Schlangen von Coruum bald in großer Zahl zu einem Feldzug aufbrechen, von dem sie niemals zurückkommen werden. Die Krieger von Tikal werden das Reich von Quetzal-Jaguar
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