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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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unten.
    Ein leichter Wind zupfte an den Kronen der Moorbirken. Er trieb die Blätter wie Boote vor sich her. Spielte einen Moment mit ihnen und ließ sie fallen.
    Die beiden Raben hockten immer noch auf dem Dach von Agnès‘ Häuschen und plapperten. Es klang als unterhielten sie sich. Sie schienen mich anzustarren. Ich überlegte, ob ich nicht doch besser mit Lizzie gehen sollte. Dann nahm ich eine Bewegung hinter dem Fenster war und straffte meine Schultern. Das sind nur Vögel , dachte ich, nichts weiter . Wie zum Beweis flatterten sie in den nächsten Baum und krächzten lauthals.
    Vor der Haustür blieb ich stehen und klopfte. Keine Reaktion. Aber es war jemand im Haus, ich hörte dumpfe Schritte. Als nach nochmaligem Klopfen immer noch niemand öffnete, drückte ich die Klinke nach unten. Die Tür war unverschlossen. Langsam schob ich sie auf und trat ein.
    Agnès wandte mir den Rücken zu. Ihr kupferfarbenes Haar lugte unter einem Kopftuch hervor. Sie malte. Bedächtig führte sie den Pinsel über die Leinwand. Das Bild war unfertig, doch die düstere, bedrückende Stimmung trieb mir einen kalten Schauer über den Rücken.
    Rabennacht , schoss es mir durch den Kopf. So hatte meine Großmutter die Neumondnacht genannt. Wenn kein Lichtschimmer das Dunkel durchbrach. Kein Mond, kein Stern zu sehen war. Und selbst die Beleuchtung vor ihrer Haustür zu schwach war, um die Schwärze zu überlisten. In solchen Nächten fachte sie ein Feuer im Kamin an und erzählte uns Geschichten bis wir eingeschlafen waren.
    Agnès hatte sich umgedreht und sah mich an, gar nicht verwundert mich zu sehen, so schien es mir. Sie wischte den Pinsel an einem Lappen ab und legte ihn beiseite. Dann verschwand sie in einem Nebenraum. Ich hörte sie mit Geschirr klappern. Einen Augenblick später trug sie ein Tablett ins Zimmer. Der Raum füllte sich mit dem Duft nach reifen Früchten. Sie deutete auf einen Stuhl.
    Ich setzte mich vor den Kamin und sie drückte mir einen Becher dampfenden Tee in die Hand. Um meine Beine wickelte sie eine raue Decke. Ich fühlte mich fast wie im Haus meiner Großmutter. Geborgen und beschützt. Keine Rabennacht könnte mir hier etwas anhaben.
    Auf dem Kaminsims standen zwei Bilder. Genauso schön und verstörend wie die Frau, die mich mit ihren Meeraugen anlächelte .
    Wir schwiegen. Ich war unsicher, wusste ich doch nicht einmal, ob sie mich verstand. Aber ihr Lächeln schien zu sagen: Es ist alles gut. Alles ist, wie es sein soll.
    Langsam wurde mir warm. Ich schlug die Decke zurück und betrachtete die Gemälde auf dem Kamin genauer. Nacht. In Agnès‘ Bildern war immer Nacht. Dunkle Blautöne flossen in Schwarz, vermischten sich und bildeten einen Himmel, wie ich ihn noch nie gesehen, aber schon oft gespürt hatte. In einsamen Nächten, wenn ich auf meiner Terrasse stand und mich nach etwas sehnte, das ich nicht benennen konnte.
    Agnès‘ Hände auf meinen Schultern. Ihr Atem in meinem Haar.
    „Als hättest du in mein Herz gesehen“, flüsterte ich.
    Ihre Finger glitten meine Arme hinab, verschränkten sich mit meinen. Ich schloss die Augen.
    Dann die Kälte, als sie mich los lies. Als hätte mir jemand in einer eiskalten Nacht die Decke weggezogen.
    Sie nahm ihren Pinsel und begann wieder zu malen. Ihre Blicke klebten an der Leinwand, sahen durch sie hindurch in ihre eigene Fantasie.
    Verloren stand ich einen Moment am Kamin und beobachtete, wie sie den Pinsel über die Leinwand führte. Dann ging ich nach draußen. Die Raben flatterten von ihrem Ast und verschwanden im Wald.
    Ich setzte mich auf die Stufe vor der Haustür und stützte meinen Kopf in die Hände.
    „Hättest du vielleicht Lust …“
    Ich sah in das gerötete Gesicht des Stallburschen. „Jaques! Wie lang stehst du denn schon hier?“
    „Ich hab auf dich gewartet.“ Er holte tief Luft. „Ich muss einen Zaun reparieren und habe mich gefragt … Möchtest du ein Stück mitgehen?“
    Er scharrte im Schmutz wie ein nervöses Fohlen und ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Vielleicht war das keine schlechte Idee. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ich brauchte Abstand. Zu Agnès, ihrem Haus und zu mir selbst. Ich streckte Jaques die Hand hin. Er zog mich auf die Füße.
    „Dort, hinter der Kirche“, sagte er.
    „Wohnen da nicht die beiden alten Leute?“
    „Hm“, machte er und blieb stehen. „Sie sind so alt wie das Moor und genauso trügerisch.“
    „Was meinst du?“
    „Man darf nicht alles glauben, was sie

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