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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Veränderung lag in der Luft. Ich glaubte zu wissen, was ich tun sollte, aber was ich tun wollte, war etwas ganz anderes. Ich wollte in Agnès‘ Bilder eintauchen, wollte mich in der Dunkelheit verlieren.
    Ich ging einige Schritte auf ihr Haus zu und sie öffnete die Tür. Ihre Silhouette hob sich wie ein Schatten vor dem erhellten Hintergrund ab. Ich spürte ihre Blicke auf mir, dann verschwand sie im Zimmer. Den Eingang ließ sie offen. Ich zögerte. Die Vögel verstummten, nur das Rauschen des Windes war noch zu hören. Ich sah zum Eingang des Gasthauses – zu Agnès geöffneter Tür. Die ersten Regentropfen fielen auf meine nackten Arme und ich lief los.

Kapitel 5

    E in Hauch von Zimt und feuchtem Heu lag in der Luft. Auf der Staffelei stand ein anderes Bild als am Morgen. Eine Lichtung im Mondlicht. Die Farben schienen mit einer Schicht Silberstaub überzogen zu sein. Auf dem untersten Zweig einer Buche hockte ein Uhu und suchte mit seinen funkelnden Augen den Waldboden ab. Das Flackern des Kaminfeuers gab der Szene den Anschein von Lebendigkeit. Jeden Augenblick würde sich der Vogel durch die Luft gleiten lassen.
    Agnès beobachtete mich. Sie stand neben der Staffelei. Bewegungslos, als wäre sie Teil des Gemäldes.
    Ich nahm ihre Hand. Fuhr mit meinen Fingerspitzen die Linien in ihrer Handfläche nach. Ihre Haut verströmte den Duft von Sommer. Birnen und Sauerklee. Ich küsste ihre Lebenslinie. Genau an der Stelle, an der sie abrupt endete.
    Agnès legte ihre andere Hand an meine Wange. Berührte mein Gesicht, meine Stirn.
    Der Regen prasselte ans Fenster. Funken stieben aus dem Kamin. Mein Herz raste. Ich flüsterte ihren Namen und ließ mich fallen. Ihre Berührungen trugen mich auf die Lichtung. Kühles Moos an meinem Rücken. Mondlicht auf meiner Haut. Agnès‘ Körper warf seinen Schatten auf meinen Bauch, meine Schenkel. Der Schrei des Uhus. Über meinem Kopf der Orion. In meinem Herzen eine Farbexplosion.
    Eine Ewigkeit lagen wir engumschlungen auf dem Boden. Ich lauschte Agnès‘ gleichmäßigem Atem. Ihrem Herzschlag. Sog ihren warmen Duft ein. Ich fühlte mich frei. Losgelöst.
    Glockenschläge rissen mich in die Wirklichkeit zurück. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Wie spät mochte es sein? Und was sollte ich Lizzie erzählen, wenn sie fragte, wo ich gewesen war?
    Agnès schien in meinem Gesicht zu lesen. Ihre Blicke hielten meine fest. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Risse zogen sich durch die Holzbretter. Ich wollte nicht gehen. Aber ich konnte auch nicht bleiben. Ein dicker Kloß steckte in meinem Hals. Ich stand auf. „Es tut mir leid, ich …“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern.
    Agnès setzte sich auf und schlang ihre Arme um die Knie. Sie starrte auf meinen Mund, als versuchte sie den Sinn meiner Worte zu verstehen.
    Ich hockte mich vor sie hin und nahm ihre Hände.
    „Ich würde gerne wieder kommen, aber ich muss nach meiner Schwester sehen … und Chloé hat Pilze gepflückt.“ Ich lachte bitter. Was redete ich denn da für einen Unsinn? Ich hatte Angst, das war alles. Mein Magen verkrampfte sich. Ich fühlte mich schlecht, als ich Agnès einfach dort sitzen ließ und ging zum Gasthaus. Ohne mich noch einmal umzusehen. Ihre Blicke schmerzhaft in meinem Rücken.
    „Ach, da bist du ja, meine Süße!“ Chloé hievte eine schwere Platte mit Fleisch auf den Tisch und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Wir dachten schon, du hättest dich verirrt.“
    Ich fühlte mich schuldig. Chloé hatte die ganze Arbeit allein erledigen müssen, während ich …
    „Nun komm schon und setz dich, du siehst hungrig aus.“ Sie deutete auf den freien Stuhl neben meiner Schwester und hastete in die Küche zurück.
    Etienne und Jacques saßen an der Theke und drehten uns den Rücken zu.
    Ich befühlte meine Wangen, mein Gesicht glühte.
    Lizzie lud sich einen Berg Pilze, Kartoffeln und Fleisch auf den Teller und kaute verzückt an einem Stück Braten.
    „Ich weiß gar nicht, wie ich bis jetzt leben konnte“, nuschelte sie und trank einen Schluck Bier, „ohne jemals auf einem Pferd gesessen zu haben. Du musst mit dem Tier eine Einheit bilden. Als wärt ihr ein Körper.“
    Sie plapperte in einem fort, von Hufeisen und Flanken und dampfenden Nüstern. Ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte und war froh, dass sie sich mit gelegentlich eingeworfenen Ohs und Ahs als Antwort zufrieden gab.
    Chloé ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf

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