Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
Vom Netzwerk:
und nach kurzem Zögern nahm sie sie. Mit einem Ruck, zog ich sie auf die Füße.
    „Es riecht muffig hier drinnen“, sagte sie mit einem Blick zu Etienne. „Ich brauche wirklich frische Luft.“
    Es nieselte nur noch. Der Wind war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Der Mond lugte durch die Birkenkronen. Wir schlenderten über den Dorfplatz, an Agnès‘ Haus vorbei, in Richtung Kirche.
    „Wir bekommen Föhn“, sagte ich.
    Lizzie blieb stehen und rieb sich über die Stirn. „Du hast mir gefehlt“, flüsterte sie. „Ich war so eine dumme Kuh, in den letzten Jahren. Und ich will dich nicht ganz verlieren.“
    „Ach Lizzie …“
    „Nein, sag nichts, du weißt, dass ich recht habe. Ich bin einfach zu blöd. Ich schaffe es jeden zu vergraulen, der mir etwas bedeutet. Und wenn ich mir Mühe gebe und tatsächlich mal einen Typen finde, den ich mag, dann verarscht er mich nach Strich und Faden. Die sind doch alle gleich.“
    Ich nahm ihre Hand. „Du darfst nicht so ungeduldig sein. Geh es einfach etwas langsamer an.“
    „Was ist mit dir?“, fragte sie. „Sehnst du dich denn nicht nach einem Mann, der zu dir hält, ohne wenn und aber?“
    Der Mond stieg über den Wald und ich erkannte Agnès‘ Gesichtszüge in der Kraterlandschaft. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt … Ich muss mir noch über so vieles klar werden“, wich ich ihr aus. „Willst du das denn?“
    „Hm“, machte sie. „Manchmal.“
    Ein Käuzchen schrie. Eine Wolke schob sich vor den Mond und verdeckte Agnès‘ Gesicht.
    „Du kannst nicht immer weglaufen“, sagte ich. „Wenn du etwas willst, musst du dafür kämpfen. Auch wenn du vielleicht verletzt wirst.“
    Die Worte klangen hohl in meinen Ohren. Ausgerechnet ich gab solche Ratschläge.
    Lizzie nickte. „Du hast Recht, große Schwester. Lass uns wieder rein gehen. Wenn ich hinfalle, bist du ja da, um mir ein Pflaster auf die Wunde zu kleben, nicht wahr?“
    „Genau wie früher!“, lachte ich, „als du unbedingt mit Großmutter Roses altem Damenrad den Abhang hinunter rasen musstest.“
    „Hey, aber die Abfahrt war das offene Knie wert!“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Du bist die Beste.“
    Im Ratschläge geben und Pflaster aufkleben war ich sicher nicht schlecht. Wenn ich doch meine Weisheiten nur selbst beherzigen könnte, dachte ich. Wir gingen zurück zum Gasthaus.
    Von der Treppe aus sah ich eine Frau in der Gasse zum Stall verschwinden. Ich meinte kupferrotes Haar im schwachen Mondschein zu erkennen.
    „Geh du schon vor“, sagte ich. „Ich möchte noch einen Moment die Nachtluft genießen.“

Kapitel 6

    D ie Pferde schnaubten in ihren Boxen, als ich den Stall betrat. Ich hörte Schritte und huschte in den hinteren Bereich des Gebäudes. Es war auch zu verrückt. Ich schlich mitten in der Nacht im Dorf herum, auf der Suche nach einem Phantom. Oder auf der Suche nach meinen Dämonen.
    Jemand hustete. Reflexartig stieg ich die Leiter zum Heuboden hinauf, legte mich flach auf den Boden und hoffte, dass mein Herzschlag mich nicht verriet. Ich sah durch die Luke nach unten.
    Etienne kontrollierte die Pferdeboxen, strich den Tieren über die Blesse, flüsterte ihnen besänftigende Worte zu. Seine Stimme klang zärtlich, seine Bewegungen waren langsam und kontrolliert. Er sah zum Heuboden. Ich drücke mich tiefer ins Stroh. Dann wandte er sich dem Eingang zu und ich dachte, er würde gehen. Aber dort stand jemand. Kupferrotes Haar glänzte im schwachen Mondlicht. Mein Herz schlug noch etwas schneller.
    Der Cavalier machte eine Bewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. „Geh nach Hause“, sagte er. „Du machst alles nur schlimmer.“
    Sie stand nur da, ganz still, und sah verloren aus. Und wunderschön. Dann streckte sie die Hand nach Etienne aus, berührte ihn am Arm.
    „Geh doch einfach!“, brüllte er. „Bitte“, fügte er leiser hinzu und strich sich durch die Haare. „So viele Jahre. Und die Bilder sind noch nicht verblasst.“ Es klatschte, als er sich an die Stirn schlug. Die Pferde wieherten nervös.
    Agnès gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand. Ich konnte sehen wie er zitterte.
    In meinem Hals steckte ein Kloß, ich schaffte es nicht, ihn hinunter zu schlucken. Etienne lehnte sich an einen Balken und vergrub das Gesicht in den Händen.
    Was hatte er gemeint? Was für Bilder? Und was für eine Beziehung verband ihn mit Agnès? Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, ich war eifersüchtig. Ich ballte die

Weitere Kostenlose Bücher