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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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mich doch nicht getäuscht?
    „Uns folgt jemand“, flüsterte ich.
    Rokan warf einen flüchtigen Blick über die Schulter . „Komm“, sagte er nur und zog mich weiter mit sich.
    Wir gingen zügig auf den Hügel zu, vorbei an der Stelle, an der ich mir den Kopf an dem entwurzelten Baum angeschlagen hatte. Mittlerweile reichte mir der Nebel bis zur Hüfte. Wenn er noch dichter und höher wurde, dann würde Rokan bald komplett darin versinken. Ich klammerte mich an seiner Hand fest. Es war windstill, doch in den Baumkronen über unseren Köpfen k nackte es, als bewegte n sie die Äste . Der Nebel schlug Wellen. I ch fühlte mich, als watete ich durch ein kaltes, weißes Meer.
    Der Hügel war größer, al s es den Anschein gehabt hatte und nur spärlich mit Schnee bedeckt. Rokan ließ meine Hand los. „Warte“, sagte er und drückte sich durch die Büsche, d ie sich am Fuß des Hügels breit gemacht hatten. Sein Kopf verschw and zwischen Zweigen und Nebel.
    Es war ungewöhnlich still im Wald. Die Tiere des Tages schliefen schon und die n achtaktiven schienen noch nicht aufgestanden zu sein. Ich zitterte und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Ich hörte wieder das Knirschen und etwas, das wie ein Husten klang. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in den Wald hinein. Stand da jemand zwischen den Baumstämmen? Ich bewegte mich rückwärts auf die Stelle zu, an der Rokan verschwunden war.
    „Der Eingang existiert noch.“ Ich schnellte herum, als Rokan mich am Arm berührte. „Es ist schon so lange Zeit her, dass ich ihn gefunden habe“, sagte er. „Und ich fürchtete einen Moment lang, er könnte sich verschlossen haben.“ Er sah mir ins Gesicht. „Was hast du, du siehst verstört aus.“
    Ich sah noch einmal zurück. Die Bäume standen bewegungslos wie Soldaten. „Mir ist nur kalt, lass uns gehen.“
    Rokan schlüpfte als erster durch den Felsspalt. Die Öffnung war eng und niedrig, ich musste den Kopf einziehen. Dann stand ich in Dunkelheit. Ich hörte Rokan in seinem Rucksack herumkramen, kurz darauf erhellte ein Lichtkegel den steilen Weg, der gerade wegs nach unten führte. Rokan gab mir die Taschenlampe in die Hand, während er seinen Rucksack verschloss und anschließend schulterte. Dann nahm er sie wieder an sich. Ich betrachtete die schwarze Lampe und hatte das Gefühl, dass etwas nicht richtig war . Diese Lampe erschien mir wie ein Fremdkörper zwischen Rokans gedrungenen Fingern.
    „Gibt es Batterien im Dorf? Elektrizität?“
    „Das Knäul der Zeit hat sich gewandelt. An einigen Enden scheint es unlösbar verknotet, an anderen zerfällt es . Und an manchen bilden sich neue Fäden. Es gab Zeiten, da rasteten Wanderer in unserem Dorf und manch einer trug merkwürdige oder nützliche Dinge mit sich.“
    Ich folgte dem Lichtschein der Lampe. Unsere Schritte hallten dumpf von den Wänden zurück. Die Luft roch muffig und wurde mit jedem Meter, den wir hinabgingen, wärmer. Bald fing ich an zu schwitzen und zog ich meinen Mantel aus, legte ihn mir über den Arm. Von dem engen Weg gingen etliche Abzweigungen ab, aber Rokan lief zielstrebig voran. Immer weiter hinab.
    Wir schienen eine Ewigkeit gelaufen zu sein, in diesem verästelten Labyrinth aus Gängen, als wir an einen natürlichen Torbogen gelangten. Mir stockte der Atem. Vor mir lag eine riesige Höhle. Die Felswände schimmerte n , als strahlte n sie von innen heraus. Die hohe Decke schien von Stalagnaten getragen zu werden . Die Tropfsteine hatten sich zu skurrilen Säulen verbunden und begrenzten einen See. Die Wasseroberf läche spiegelte die Umgebung wi der. Ich trat an den Rand des Wassers und blickte in eine Welt, die von steinernen Lebewesen bevölkert war. Ein Satyr stützte mit einem Arm die Balustrade eines Herrenhauses. Seine Beine waren gespreizt, die Hufe fest in den Fels gestemmt. Um seine Mitte schlang sich ein Basilisk, der seinen anderen Arm halb verschlungen hatte.
    „Das ist fantastisch“, flüsterte ich und wusste nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte.
    Auf der gegenüberliegenden Seite erkannte ich einen Greif, der sich aufbäumte, mit fliegender Mä hne, die Flügel gespreizt. Meerjungfrauen, Chimären, ein Einhorn. In der Ferne zeichneten sich die Umrisse einer Festung ab. Ich kniff die Augen zusammen. Nein, das war ein Hochhaus! Ein Wolkenkratzer, mit verspiegelter Fensterfront. Eine Welle zerstörte das Bild , und als die Wasseroberfläche sich klärte , drehte sich dort ein Riesenrad. Blinkende Lichter an den

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