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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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drückte die Klinke nach unten und zog an der Tür, die sich problemlos öffnen ließ.
    Der Geruch nach Staub und Verbranntem kratze in meinem Hals. Ich unterdrückte ein Husten und lauschte an der Tür. Nichts. Kein Knirschen, kein Fauchen, draußen war alles ruhig und so sah ich mich um. Auf dem steinernen Altar brannte ein ganzes Meer von Kerzen. Kein Bild, kein Kreuz schmückte die weißen Wände der Kirche. Alles deutete darauf hin, dass hier schon lange keine Messen mehr abgehalten wurden. Aber wer hatte dann die Kerzen angezündet? Und warum?
    Beim Näherkommen sah ich, dass die Kerzen einen Kreis um eine Puppe bildeten. Eine Stoffpuppe mit Wollhaaren. Ich berührte ihren Körper mit meinen Fingerspitzen, strich über den groben Leinenstoff und nahm sie an mich. Eins ihrer Knopfaugen hing lose herunter, baumelte ihr fast bis zum runden Kinn. Der ehemals weiße Stoff war vergilbt und fleckig und aus einem Riss am Bauch quoll dunkelbraunes Garn. Ich fühlte mich plötzlich schwer und traurig. Diese Puppe wirkte wie das Mahnmal einer verlorenen Kindheit auf mich, wie sie dort gelegen hatte, allein und ramponiert.
    Jemand lachte. Ich hielt die Luft an, bis das Echo der hellen Stimme verklungen war.
    „Hallo?“ Ich spähte in jede Ecke des Raums. „Ist da jemand?“
    Dann begann die Kirchenglocke zu schlagen und mit jedem weiteren Glockenschlag beschleunigte sich mein Puls. Die Schatten zwischen den Stuhlreihen formten sich zu Körpern, bewegten sich auf mich zu. Ich legte die Puppe zurück auf den Altar und rannte, ohne mich noch einmal umzusehen, zu Rokans Haus. Ohne anzuklopfen, stürzte ich hinein und prallte gegen einen Stuhl.
    Rokan saß auf dem Bett, neben sich sein Mantel und ein Rucksack. „Gut“, sagte er. „Ich wusste, dass du kommst.“
    Ich rieb mein schmerzendes Knie und kam mir dumm vor. Ein Kind, das sich vor Schatten fürchtet.
    „Vor uns liegt ein beschwerlicher Weg. Du solltest dir etwas Passenderes anziehen.“ Er deutete auf einen Stuhl, auf dem Männersachen lagen. Eine dunkle Hose, ein helles Leinenhemd. Über der Lehne hing ein Mantel, aus grobem, schwerem Stoff. Ich nahm die Kleider an mich und sah mich im Zimmer nach einem Eckchen um, wo ich mich unbeobachtet umziehen könnte.
    Rokan lächelte . „Ein kleiner Mann, ist doch ein Mann, nicht wahr?“ Er hüpfte vom Bett und nahm den Schürhaken von der Halterung am Ofen, hockte sich hin und stocherte in der Glut. Ich betrachtete seinen Rücken, die – für seine Körpergröße – breiten Schultern. Dann beeilte ich mich, schlüpfte aus meinen Sachen und zog mich um.
    „Ich hoffe die Kleider passen“, sagte er. „Sie gehören meinem Bruder. Wie du feststellen kannst, ist er größer als ich.“ Er hängte den Schürhaken zurück an seinen Platz und drehte sich zu mir um. „In mancherlei Beziehung“, fügte er hinzu.
    „Wo werden wir hingehen? Weißt du, wo wir suchen müssen? Und glaubst du, dass wir Agnès und das Mädchen finden werden?“ Die Worte sprudelten aus meinem Mund. Mein Herz klopfte aufgeregt. Vielleicht würde ich Agnès schon bald wiedersehen.
    „Nichts steht fest. Nichts ist gewiss“, sagte er. „Bist du sicher, dass du diesen Weg gehen willst? Ich weiß nicht einmal, wo wir ankommen werden, und ob wir irgendwo ankommen werden, ich weiß nur, wo wir beginnen müssen.“
    Ich schlang den Mantel um mich und zog die Kapuze über den Kopf. „Das scheint eine lange Reise zu werden, also sollten wir uns auf den Weg machen.“
    Rokan zog ebenfalls seinen Mantel an und schulterte den Rucksack. Seine Augen blitzten auf, als er sich über die Kerze beugte und die Flamme ausblies. Wir standen im Dunkeln und ich lauschte dem Schlag meines Herzens.
    „Dunkelheit“, flüsterte Rokan. „Am Anfang herrscht immer Dunkelheit.“ Dann öffnete er die Tür und ich folgte ihm in den Wald.

Teil 2 : grün

Kapitel 13

    W ir umrundeten das Dorf im Schutz der Bäume. Der Boden war von einem Nebelschleier bedeckt. Im schwachen Mondlicht konnte ich kaum erkennen, wohin ich meine Füße setzte. Ich stolperte über eine Wurzel. Rokan fing mich auf, nahm mich an der Hand und führte mich weiter .
    „Werden wir durch ein Bild gehen?“ , fragte ich, als wir den Fichtenwald hinter dem Gasthaus erreichten.
    „ Nein. Ich habe einen Riss gefunden, schon vor langer Zeit.“
    „Und wo führt er hin?“
    „Dringlicher als das Wo interessierte mich das Wann.“
    Aus Richtung der Gaststätte vernahm ich wieder das Knirschen. Hatte ich

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