GK0144 - Die Todesgondel
Über Venedig tobte ein mörderisches Unwetter!
Es war eines jener Frühjahrsgewitter, welche die des Spätsommers an Heftigkeit oft weit übertrafen. Pausenlos zuckten Blitze vom Himmel. Wolkenberge jagten aufeinander zu, stießen zusammen, und der gewaltige Donner rollte wie das Gebrüll eines urweltlichen Ungeheuers über die Stadt.
Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet. Wassermassen prasselten auf die Erde nieder, spülten Staub und Matsch von den Straßen und ließen die unzähligen Kanäle ansteigen. Das Wasser schäumte hoch, drang in Keller und Wohnungen ein und ertränkte unzählige Ratten, die in Venedig die Anzahl der Einwohner noch übertrafen.
Die Straßen der Touristenstadt waren leergefegt. Die Regenschauer tanzten über den Markusplatz, wurden vom Wind bewegt wie ein riesiger Wasservorhang.
Die Menschen waren vor dem Unwetter geflüchtet. Sie hatten sich in die oberen Etagen ihrer Häuser verkrochen und warteten dort das Ende des Gewitters ab. Manche Kerze wurde angezündet, und die Gebete der Alten galten den Schutzheiligen.
Die Touristen hatten in den Hotels Zuflucht gesucht. Hier ging das Leben weiter, es wurde gelacht, gesungen und getanzt. Während draußen das Unwetter tobte, dinierte man bei Kerzenschein, leiser Musik und in festlicher Garderobe.
Anders das junge, schwarzhaarige Mädchen mit den dunkelbraunen, verträumten Augen, in denen jetzt jedoch die Angst leuchtete. Das Mädchen stand in einer schmalen Einfahrt, hüllte sich frierend in den nassen dunklen Mantel und blickte immer wieder gehetzt zurück.
Die Verfolger waren nicht mehr zu sehen. Anscheinend hatten sie es aufgegeben.
Das Mädchen atmete auf. Und doch wußte Carla Bonetti, daß sie noch nicht in Sicherheit war.
Die Schergen des Goldenen Löwen lauerten überall!
Ihnen gehörte Venedig. Sie beherrschten die Stadt mit ihrem satanischen Terror, und wer in ihre Fänge geriet, war rettungslos verloren.
Carla Bonetti hatte sich gegen den Goldenen Löwen aufgelehnt. Sie war nicht in die schwarze Todesgondel gestiegen, um dem Goldenen Löwen geopfert zu werden. Doch wer die Todesgondel gesehen hatte, entkam ihr nicht mehr, so erzählten es die Menschen in den Wohnvierteln der Stadt.
Carla hatte sie gesehen. Und dafür sollte sie nun büßen.
Ihr Atem hatte sich langsam wieder beruhigt, und der Herzschlag war auf ein normales Maß zurückgegangen. Carla stand dicht an der rissigen Mauer. Eine Spinne schlüpfte aus einem Spalt und krabbelte über Carlas Handrücken.
Das Mädchen verzog angewidert das Gesicht und schlug mit der freien Hand die Spinne von ihrem Arm. Sie fiel zu Boden, und Carla zertrat sie.
Vor dem Mädchen gurgelte und schmatzte die schmutzigbraune Brühe eines Kanals. Auf der Oberfläche trieben allerlei Gegenstände, meist Papier und Holz.
Der Kanal stank. Fäkalien und Abfall wurden einfach hineingeleitet. Die Menschen machten es sich bequem. Unrat wurde kurzerhand aus den Wohnungsfenstern in den Kanal gekippt. Irgendwann würde Venedig noch im eigenen Dreck ersticken, das hatte man vor kurzem noch in einem Zeitungsartikel prophezeit.
Es war eine finstere Gegend, in der sich Carla Bonetti befand. Die alten, schmalen Häuser klebten dicht aneinander. Abgeblätterte Fassaden verstärkten den morbiden Eindruck des Viertels noch. In manchen Fenstern gab es nicht einmal Scheiben. Und doch wohnten hier Menschen. Familien, die kaum das Notwendigste zum Leben hatten und bei denen die Angst vor dem Goldenen Löwen stetiger Gast war.
Der untere Teil der Häuser war vom Wasser ausgehöhlt und ausgewaschen worden. Moos und Algen waren gewachsen, und das salzige Wasser aus dem Meer fraß sich immer weiter in die Hausfundamente. Um die Häuser kümmerte sich niemand. Sie waren ja auch kein Kulturgut, das Touristengeld brachte.
In diese Gegend verirrte sich kaum ein Fremder. Und wenn, dann wurde er ein Opfer der ansässigen Banden. Seine Brieftasche wurde er immer los.
Das Unwetter war weiter gezogen, tobte jetzt über dem Meer. Es regnete auch nicht mehr, und der Wind hatte die dunklen Wolken vertrieben. Ein Dreiviertelmond stand am Himmel und übergoß die Stadt Venedig mit seinem silbrig schimmernden Licht. Das Licht brach sich auf den Schaumkämmen der Wellen und warf bizarre Reflexe.
Carla Bonetti löste sich aus dem Schatten der Mauer. Sekundenlang stand sie halb geduckt auf der Stelle und lauschte in die Dunkelheit, die in den Winkeln und Gassen wie Watte nistete.
Kein fremder Laut drang an Carlas
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