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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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musste, so weitläufig war sie. Die Decke wurde von Pfeilern gestützt. Nein, das waren Bäume. Gewaltige, knorrige Stämme, die aus dem Fußboden wuchsen. Im Schatten der Bäume standen Tischgruppen. Flötenmusik und Lachen. Und tanzende Mädchen in wehenden weißen Gewändern. An einigen Tischen wurde gewürfelt oder Karten gespielt , an anderen nur getrunken . Trotz des frischen Grüns und der fröhlichen Musik wirkte die Einrichtung heruntergekommen.
    „Suchst du einen Tisch? Willst du spielen?“
    Die Stimme war voll und tief, doch der Atem , der mir ins Genick wehte , stank nach Schnaps. Ich drehte mich um und schluckte. Die Gesichtszüge waren ebenmäßig, ein kleines Bärtchen betonte das Kinn. Man hätte ihn als schön bezeichnen können, wenn seine Augen nicht in tiefen dunklen Kratern gelegen hätten und das Weiß von roten Adern durchzogen gewesen wäre. Aus seinem vollen, mokkabraunen Haar ragten zwei geschwungene Hörner.
    „Nein, ich würde gerne …“ Ich hielt inne und schluckte. Das, was ich für eine Hose gehalten hatte, waren seine Beine. Haarig und muskulös. „Der Teufel“, flüsterte ich.
    Er trat von einem Huf auf den anderen und lachte meckernd, erst da erkannte ich die Eisenfesseln, die in seine Gelenke schnitten.
    „Wer bist du?“, fragte ich.
    „Niemand“, sagte er. „Ich bin niemand.“ Er zog einen Flachmann aus seiner Gürteltasche und nahm einen tiefen Schluck, verzog das Gesicht, betrachtete seine schmalen Finger mit den schmutzigen Nägeln. Dann be ugte er sich dich t zu mir und strich über meine Wange. Sein alkoholgeschwängerter Atem nahm mir die Luft. „Verschwinde von hier“, flüsterte er. „Das ist kein Ort , an dem man verweilen sollte.“
    „Ich kann nicht. Ich muss jemanden finden. Einen Jungen und einen Kleinwüchsigen . Sie sind erst heute angekommen. Hast du sie gesehen?“
    „Heute?“ Er lachte wieder das meckernde Lachen. „Was bedeutet heute auf der ewig blubbernden Suppe?“
    „Bitte. Rokan ist etwa so groß. Und der Junge überragt mich um einen Kopf.“
    „Ein Zwerg? Dann ist er ein Akteur?“
    „Nein“, sagte ich. „Er ist nicht freiwillig hier.“
    „Freiwillig?“ Er riss an seinen Fesseln. „Wer würde freiwillig hier sein? Wenn er ein Neuankömmling ist, wird ihn der Vater einweisen. Das Vergnügen überlässt er nur ungern jemand anderem.“
    „Und wo finde ich den Vater?“
    „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Flieh , solange du noch kannst!“
    Aus seiner Gürteltasche knarzte und pfiff es und er zog einen kleinen silbernen Kasten hervor, aus dem eine verzerrte Stimme zu hören war. „Schick den Doktor in meine Kammer. Sofort!“ Es knarzte noch einmal und er steckte das Ding, das offenbar ein Funkgerät oder eine Sprechanlage war zurück in die Tasche.
    „Er verlangt nach dem Doktor “, sagte der Gehörnte und in seiner Stimme schwang Furcht. „ Sind dein e Freund e besonders oder andersartig?“ Ich spürte das Blut aus meinen Wangen weichen und er nickte. „Dann such nicht mehr nach ihnen .“ Er drehte sich um und ging zur Treppe.
    „Warte!“, rief ich ihm nach. „Sag mir wenigstens deinen Namen.“
    „Ich hatte einmal einen Namen.“ Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Ein en Name n , der die Blumen zum B lühen brachte und die Herzen der Jungen und Mädchen ungeduldig schlagen ließ. Wenn ich aufspielte, hielten die Flüsse inne und die Bäume seufzten … Aber das ist lange her. Ich bin es nicht wert“, er streckte seinen Arm aus und ich sah, dass seine Hand zitterte, „ihn länger zu tragen.“
    „Pan“, flüsterte ich. „Du bist ein Pan, nicht wahr?“
    „Ich bin nur eine Attraktion in des Vaters Kuriositätenkabinett, eine Kreatur für deren Anblick man teuer bezahlt.“ Er straffte die Schultern und sein Blick wurde hart . „Dein e Freund e sind verloren.“
    Ich beobachtete, wie er unsicher die schmalen Stufen nach oben kletterte , und folgte ihm in einigem Abstand.
    Er knurrte, als ich mich hinter ihm durch die Schranktüren zwängte, schickte mich aber nicht fort. Wir gingen in den anderen Gang, der nach links führte. mONSTROESE mASCHINEN, mARKIGE mEDIKAMENTE und gARSTIGE gERAETSCHAFTEN. Meine Zunge klebte am Gaumen, ich konnte kaum schlucken. Was war das nur für ein Ort? Und was war das für ein Mensch, den sie den Vater nannten?
    „Pan?“ Ich hielt ihn am Arm fest. „Wer ist dieser Vater?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Niemand hat ihn bislang gesehen. Niemand von dem ich

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