Cosm
alte und das neue Kalifornien aufeinander. Eine Bibliothek erhob sich, stramm wie ein Ausrufungszeichen, über die Nostalgie früherer Zeiten und repräsentierte mit ihrer streng geometrischen Linienführung die Sachlichkeit der Gegenwart. Alicia betrat ein langgestrecktes Gebäude im maurischen Stil mit der Aufschrift EAST BRIDGE. Über den braunen Fußbodenfliesen setzten hohe, weiße Rundbögen das Arkadenmotiv von draußen fort. Durch eine schmiedeeiserne Gittertür, die den südländischen Charakter der Vorhalle nochmals betonte, gelangte sie in einen Raum, wo die neuesten Zeitschriften auslagen. Der Geruch nach Stuck und alten Fliesen und die tiefe Stille erinnerten an eine Kapelle. Sicher, sie war auf der Suche nach Erleuchtung, aber nicht unbedingt nach Erleuchtung im religiösen Sinn.
Physik war im Caltech gleichbedeutend mit Grundlagenforschung. Nützliche und korrekte, aber letzten Endes unspektakuläre Projekte waren verpönt. Dies war eine Hochburg der Geistesriesen; in diesen heiligen Hallen konnte man lebenden Legenden wie Richard Feynman und Murray Gell-Mann begegnen. Alicia blieb stehen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte kehrtgemacht und wäre unverrichteter Dinge in die UCI zurückgefahren. Wenn die Kugel nun doch nur ein kurioses Metallgebilde war? Vielleicht war ihr ein ganz simpler Fehler unterlaufen, und sie hatte sich die ganze Zeit nur etwas eingeredet? Wenn sie sich nun an einen Außenstehenden wandte, machte sie sich womöglich nur zum Gespött.
Reiß dich zusammen, Mädchen! Sie ging weiter.
Gleich hinter dem Gemeinschaftsraum des Fachbereichs Theoretische Astrophysik, wo eine Kaffeemaschine stand und stapelweise Vorabdrucke der neuesten Publikationen auflagen, stieß sie auf die Büros so bekannter Physiker wie Thorne, Blandford usw. Sie zögerte. Alles Leuchten der Wissenschaft, Koryphäen auf ihrem Gebiet, aber wie würden sie ihre Geschichte aufnehmen? Was sie zu erzählen hatte, klang unglaubwürdig genug, auch ohne die zwielichtige Affäre in Brookhaven … Sie hätte sich die Sache besser reiflich überlegen sollen, anstatt sich mir nichts, dir nichts in ihren Miata zu setzen und hierherzurasen.
Vielleicht wandte sie sich besser an einen nicht ganz so großen Geist? Aber ob es so jemanden am Caltech überhaupt gab?
In allen Räumen standen riesige Computeranlagen. Jedes Fach hatte inzwischen seine Spezialisten, die sich im digitalen Dschungel zurechtfanden und ihren heillos überforderten Kollegen als Führer dienen konnten. ›Crossover‹, Grenzüberschreitung hieß derzeit das Modewort. Computerhacker beschäftigten sich in Zusammenarbeit mit organischen Chemikern mit Molekularstrukturen. Mediziner und Elektroingenieure entwarfen gemeinsam Neuralnetzwerke, die ähnlich arbeiteten wie das Gehirn. Durch die neuen Techniken wurden die Grenzen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen verwischt.
Vom Korridor aus hörte sie die Leute in individuellem Kauderwelsch mit ihren Computern reden. Im Idealfall konsumierte die neue Technik komplizierte Fragestellungen und spuckte einfache Lösungen aus. Anrufbeantworter waren inzwischen so ›intelligent‹ und vielfältig programmierbar, daß nicht mehr die Technik die Form der Ansage bestimmte, sondern das Auftreten des Anrufers. So sprach man einmal mit einem unerschütterlich höflichen, englischen Butler, dann wieder mit einer kessen Sekretärin, die einem schnippische Fragen stellte – oder tatsächlich mit einem Roboter.
Alicia bog um ein paar Ecken und gelangte in Thornes Einflußbereich. Zwei Postdocs steckten neugierig die Köpfe aus ihrem gemeinsamen Büro. Vermutlich fragten sie sich, was ein schwarzes Gesicht hier verloren hatte. Das nächste Büro, Zimmer 146, gehörte einem Assistenzprofessor mit Namen Max Jalon.
Vorsichtig spähte sie durch die offene Tür. Ein großer, schlanker Mann in stahlgrauer Hose und blauem Button-Down-Hemd, mit einer Nickelbrille auf der schmalen Nase, schrieb auf einen gelben Block und strich sich dabei immer wieder mechanisch das lange, braune Haar aus der hohen Stirn. Das Büro erstickte nicht wie die übliche Theoretikerhöhle in Bergen von Papier. Die Skripten waren in ordentlich etikettierten Stehsammlern mit Aufschriften wie SUPERSTRG, MATH. GRDL. und BEOB. untergebracht.
Immerhin, das verriet ein gewisses Stilgefühl. Alicia bewunderte Männer, die ordentlicher waren als sie selbst, auch wenn dazu nicht viel gehörte. Sie hatte sich aus der UCI noch rasch das Vorlesungsverzeichnis des
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