Cotton-Malone 03 - Der Pandora-Pakt
Schulterblatt, einen Oberschenkelknochen, den Teil eines Schädels und Asche.
Sie schloss die Augen.
»Was hatten Sie erwartet?«, fragte eine unbekannte Stimme.
51
Samarkand
Vincenti überdachte Karyn Waldes Antwort auf seine Frage und fuhr fort: »Wozu wären Sie bereit, um Ihr Leben zu erhalten?«
»Es gibt wenig, was ich tun kann. Sehen Sie mich doch an. Und ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen.«
Diese Frau hatte ihr Leben lang Menschen manipuliert, und selbst jetzt auf ihrem Totenbett war sie dazu noch fähig.
»Enrico Vincenti.«
»Sie sind Italiener? Sie sehen gar nicht so aus.«
»Der Name hat mir gefallen.«
Sie lächelte. »Ich habe das Gefühl, Herr Vincenti, dass wir beide viel gemeinsam haben.«
Er war ganz ihrer Meinung. Er hatte zwei Namen, viele Interessen, aber nur ein einziges Ziel. »Was wissen Sie über HIV?«
»Nur, dass es mich umbringt.«
»Wussten Sie, dass das Virus seit Millionen von Jahren existiert? Was, wenn man bedenkt, dass es nicht einmal lebt, doch völlig unglaublich ist. Bei dem HI-Virus handelt es sich einfach um Ribonukleinsäure – RNA –, die von einer schützenden Proteinhülle umgeben ist.«
»Sind Sie Wissenschaftler?«
»Das kann man so sagen. Wussten Sie, dass das HI-Virus keine Zellstruktur besitzt? Es hat nicht einmal den Ansatz eines Stoffwechsels. Die einzige Eigenschaft, die es als lebenden Organismus ausweist, ist seine Fähigkeit zur Reproduktion. Doch selbst dazu braucht es das genetische Material eines Wirtes.«
»Wie mich?«
»Leider ja. Es gibt ungefähr tausend bekannte Viren. Allerdings werden täglich neue gefunden. Ungefähr die Hälfte von ihnen infiziert Pflanzen, der Rest Tiere. HIV benutzt einen tierischen Wirt, ist aber absolut einzigartig.«
Er bemerkte den Ausdruck der Verwirrung in ihrem eingefallenen Gesicht. »Wollen Sie nicht wissen, was Sie umbringt?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Es könnte tatsächlich eine große Rolle spielen.«
»Dann fahren Sie bitte fort, mein neuer Freund, aus welchem Grund auch immer Sie hier sind.«
Er wusste ihre Haltung zu schätzen. »Das HI-Virus ist etwas Besonderes, weil es die genetische Ausstattung einer Zelle mit seiner eigenen Erbsubstanz verändert. Darum heißt es Retrovirus. Es dringt in den Zellkern ein und integriert sich ins Genom der Wirtszelle. Es ist wie ein Einbrecher, der Zellen ihrer Identität beraubt.« Er hielt kurz inne, um das Bild auf sie wirken zu lassen. »Ein Klumpen von zweihunderttausend HI-Viren wäre mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen. Das Virus ist extrem widerstandsfähig und nahezu unzerstörbar, doch es braucht eine exakte Mischung von Proteinen, Salzen, Zucker und vor allem auch einen bestimmten pH-Wert, um zu überleben. Ein bisschen zu viel von dieser oder zu wenig von jener Substanz und« – er schnipste mit den Fingern – »das Virus stirbt.«
»Und das ist vermutlich der Punkt, an dem ich ins Spiel komme.«
»Genau. Der Körper warmblütiger Säugetiere bietet dem Virus die perfekte Umgebung. In Hirngewebe, Liquor, Knochenmark, Milch der Brustdrüsen, Gebärmutterhalszellen, Sperma, Schleimhaut und Vaginalsekret fühlt das Virus sich wohl. Am liebsten aber hält es sich im Blut und im Lymphgewebe auf. Wie Sie, Ms. Walde« – er zeigte auf die Liegende – »möchte das Virus einfach nur überleben.«
Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. O’Conner und die beiden anderen Männer standen draußen Wache. Er hatte beschlossen, an ihrem Krankenbett mit Karyn Walde zu reden, da sie hier niemand stören würde. Kamil Revin hatte ihm gesagt, dass die Wächter sich wöchentlich abwechselten. Kein Mitglied der Heiligen Schar mochte diese Pflicht, und die Wächter schenkten dem Ort kaum Aufmerksamkeit, wenn sie nicht gerade dort Dienst hatten. Für sie war dieses Haus einfach eine von Zovastinas zahlreichen Obsessionen.
»Jetzt kommt der interessante Teil«, sagte Vincenti. »Das HI-Virus sollte eigentlich gar nicht in Ihnen überleben können, denn in Ihrem Blut sind zu viele Abwehrzellen. Aber das Virus hat eine raffinierte Methode des Guerillakampfs im Mikrobereich entwickelt und spielt Verstecken mit Ihren weißen Blutkörperchen. Es hat gelernt, sich an einen Ort zurückzuziehen, wo Sie es niemals suchen werden.«
Er ließ seine Worte wirken und fuhr dann fort: »In die Lymphknoten. Diese erbsengroßen Knötchen, die im ganzen Körper verteilt sind. Sie arbeiten wie Filter und fangen ahnungslose Eindringlinge ab, so dass die
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