Cotton Malone 04 - Antarctica
Augenschein nehmen, wusste Smith, dass er ein Problem hatte. Er hatte keine Waffe dabei. Eine Pistole führte er nur bei sich, wenn es absolut unvermeidlich war, und da er von Virginia nach Florida geflogen war, war die Mitnahme einer Waffe unmöglich gewesen. Außerdem waren Schusswaffen nicht das richtige Mittel, um jemanden unauffällig um die Ecke zu bringen. Sie erregten Aufmerksamkeit, schufen Beweise und hinterließen viele Fragen.
Eigentlich sollte jetzt keiner hier sein. Sein Dossier vermerkte eindeutig, dass Herbert Rowland jeden Mittwoch bis siebzehn Uhr ehrenamtlich in der lokalen Bibliothek aushalf. Er würde erst in Stunden zurückkommen. Und seine Frau war verreist. Smith hatte Bruchstücke der Unterhaltung eben aufgefangen. Sie wirkte eher persönlich als professionell und die Frau war eindeutig gereizt. Doch dann hörte er: Sie sind bewaffnet.
Er musste hier weg, aber er konnte nirgends hin. Vier Fenster führten vom Schlafzimmer nach draußen, doch sie waren nicht zur Flucht geeignet.
Im Schlafzimmer befanden sich eine Tür zum Bad und zwei Kleiderschränke.
Er musste schnell handeln.
Stephanie öffnete die Schlafzimmertür. Das Ehebett war gemacht und alles war ordentlich wie im übrigen Haus. Eine Badezimmertür stand offen, und durch vier Fenster fiel das Tageslicht herein und badete den Berberteppich auf dem Boden in hellem Glanz. Draußen bewegten sich Bäume im Wind, und schwarze Schatten tanzten über den Boden.
»Keine Geister?«, fragte Davis.
Sie zeigte nach unten. »Nein. War wohl falscher Alarm.«
Dann fiel ihr etwas ins Auge.
Der eine Schrank hatte eine Schiebetür und war wohl der von Mrs. Rowland, da dort Frauenkleider hingen, ziemlich durcheinander. Ein zweiter Schrank war kleiner und hatte eine hölzerne Drehflügeltür. Sie konnte nicht hineinsehen, da der Schrank in einem kleinen Flur, der ins Bad führte, im rechten Winkel zu ihr stand. Ein Kunststoffbügel, der darin hing, schaukelte ganz, ganz leicht hin und her.
Das war nicht viel, aber es reichte.
»Was ist?«, fragte Davis.
»Sie haben recht«, antwortete Stephanie. »Hier ist niemand. Mir sind einfach nur die Nerven durchgegangen, weil wir hier eingebrochen sind.«
Sie sah, dass Davis nichts aufgefallen war – oder falls doch, behielt er seine Wahrnehmung für sich.
»Können wir jetzt hier verschwinden?«, fragte sie.
»Klar. Ich denke, wir haben genug gesehen.«
Wilkerson war in Panik.
Mit vorgehaltener Waffe hatte sein Entführer ihn zu dem Anruf bei Dorothea gezwungen und ihm genau vorgeschrieben, was er sagen sollte. Er hatte Wilkerson eine 9-mm-Pistole gegen die Stirn gedrückt und ihn gewarnt, dass er bei der kleinsten Abweichung vom Drehbuch abdrücken würde.
Aber der Bedrohte hatte genau nach Anweisung gehandelt.
Wilkerson war dann auf dem Rücksitz eines Mercedes-Coupés durch München gefahren worden, die Hände auf dem Rücken in Handschellen gelegt. Eine Zeitlang hatten sie gehalten und der Kidnapper hatte ihn allein im Wagen gelassen, während er draußen über Handy telefonierte.
Mehrere Stunden waren vergangen.
Dorothea sollte nun bald beim Bahnhof ankommen, doch sie waren gar nicht dort in der Nähe. Vielmehr fuhren sie vom Stadtzentrum weg, in südlicher Richtung aus der Stadt hinaus und auf Garmisch und die knapp hundert Kilometer entfernten Alpen zu.
»Eine Bitte«, wandte er sich an den Fahrer.
Dieser erwiderte nichts.
»Sie werden mir nicht sagen wollen, für wen Sie arbeiten, aber wie steht es mit Ihrem Namen? Ist der auch ein Geheimnis?«
Ein Gespräch mit dem Entführer, so hatte Wilkerson gelernt, war der erste Schritt, um etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Der Mercedes bog nach rechts auf eine Autobahnzufahrt ab und fädelte sich ein.
»Ich heiße Ulrich Henn«, sagte der Fahrer schließlich.
36
Aachen
17.00 Uhr
Malone aß mit Genuss. Er und Christl waren zum dreieckigen Marktplatz zurückgekehrt und hatten ein Restaurant gegenüber dem Rathaus gefunden. Unterwegs hatten sie im Souvenirladen des Doms Halt gemacht und ein halbes Dutzend Stadt- und Domführer gekauft. Ihr Weg hatte sie durch ein Gewirr schmaler, gepflasterter Gassen zwischen bürgerlichen Stadthäusern hindurchgeführt, die eine mittelalterliche Atmosphäre schufen, obwohl die meisten wohl kaum älter als fünfzig Jahre waren, da Aachen im Zweiten Weltkrieg schwer bombardiert worden war. Der kalte Nachmittag hielt niemanden vom Einkaufen ab. Da Weihnachten bevorstand, waren die schicken
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