Cotton Malone 05 - Der Korse
konfiszieren oder es anderen Ländern abzupressen, und noch nicht einmal, es auf der Bank zu deponieren, aber er weigerte sich, Geld zu leihen. In dieser Hinsicht war er vollkommen anders als alle, die vor oder nach ihm kamen.«
»Keine schlechte Politik«, murmelte Mastroianni. »Die Banker sind doch alle Blutsauger.«
»Wären Sie sie gerne los?«
Sie sah, dass ihm diese Aussicht verlockend erschien, aber ihr Gast blieb still.
»Napoleon war einer Meinung mit Ihnen«, sagte sie. »Er lehnte das amerikanische Angebot, New Orleans zu kaufen, rundweg ab und verkaufte Amerika stattdessen das ganze Territorium von Louisiana. Die Millionen aus dem Verkauf steckte er in seine Armee. Jeder andere Monarch hätte das Land behalten und sich von den Blutsaugern Geld für den Krieg geliehen.«
»Napoleon ist schon lange tot«, sagte Mastroianni. »Und die Welt hat sich verändert. Kredit ist heutzutage der Motor der Wirtschaft.«
»Das stimmt nicht. Sehen Sie, Robert, was Napoleon aus den Papyrusaufzeichnungen lernte, von denen ich Ihnen erzählt habe, ist auch heute noch relevant.«
Sie konnte sehen, dass sie jetzt, da sie sich dem Kern ihres Arguments näherte, sein Interesse eindeutig geweckt hatte.
»Aber natürlich«, meinte er, »werde ich das erst erfahren, wenn ich Ihrem Vorschlag zugestimmt habe?«
Sie spürte, dass sie die Situation zunehmend unter Kontrolle bekam. »Ich kann Ihnen noch eine Sache mitteilen, vielleicht hilft sie Ihnen sogar bei der Entscheidung.«
»Wie kann ich einer Frau etwas abschlagen, die ich zwar nicht mag, die mir aber einen äußerst bequemen Heimflug bietet und mir köstliches Rindfleisch, besten Champagner und natürlich das Schokoladentörtchen serviert hat.«
»Noch einmal, Robert: Wenn Sie mich nicht mögen, warum sind Sie dann hier?«
Seine Augen hefteten sich in die ihren. »Weil ich fasziniert bin. Das wissen Sie. Ja, ich wäre gerne die Banker und die Regierungen los.«
Sie erhob sich aus ihrem Sessel, trat nach hinten zu einer Ledercouch und öffnete ihre Louis-Vuitton-Handtasche. Drinnen lag ein kleines, ledergebundenes Büchlein, das 1822 erschienen war. Das Buch des Schicksals, ehemals im Besitz von und benutzt durch Napoleon.
»Das hier habe ich von meiner korsischen Großmutter bekommen, die es ihrerseits von ihrer Großmutter geerbt hat.« Sie legte das schmale Bändchen auf den Tisch. »Glauben Sie an Orakel?«
»Eigentlich nicht.«
»Dieses hier ist recht einzigartig. Es wurde angeblich von einem von Napoleons Savants in einem Pharaonengrab im Tal der Könige bei Luxor gefunden. Es war in Hieroglyphen geschrieben und wurde Napoleon übergeben. Dieser zog einen koptischen Priester zu Rate, der es mündlich für Napoleons Sekretär übersetzte, der es dann der Geheimhaltung halber ins Deutsche übertrug und Napoleon übergab.« Sie machte eine Pause. »Das ist natürlich alles erlogen.«
Mastroianni kicherte. »Warum überrascht mich das nicht?«
»Das ursprüngliche Manuskript wurde tatsächlich in Ägypten gefunden. Aber im Gegensatz zu den vorher von mir erwähnten Papyr…«
»Auf die Sie bisher noch nicht eingegangen sind«, unterbrach er sie.
»Um Näheres zu erfahren, müssten Sie dem Club beitreten.«
Er lächelte. »Ihr Pariser Club ist ja sehr geheimnisvoll.«
»Ich muss vorsichtig sein.« Sie zeigte auf das Orakelbuch auf dem Tisch. »Der ursprüngliche Text war auf Griechisch verfasst, wahrscheinlich hat er zur verlorenen Bibliothek von Alexandria gehört. Hunderttausende ähnliche Schriftrollen waren in der Bibliothek gelagert, doch bis zum fünften Jahrhundert nach Christus waren sie alle verschwunden. Napoleon ließ diesen Text hier tatsächlich übersetzen, aber nicht ins Deutsche. Diese Sprache konnte er nicht lesen. Er war in Fremdsprachen nicht sehr bewandert. Stattdessen veranlasste er eine Übertragung ins Korsische. Er führte das Orakelbuch zu allen Zeiten in einem Holzschrank mit sich. Dieses Schränkchen musste nach der verheerenden Schlacht von Leipzig 1815 zurückgelassen werden, als sein Imperium den ersten Tiefschlag erhielt. Es heißt, er habe bei dem Versuch, es zurückzubekommen, sein Leben riskiert. Ein preußischer Offizier fand es schließlich und verkaufte es an einen gefangenen französischen General, der darin ein Besitztum des Kaisers erkannte. Der General beabsichtigte, es an Napoleon zurückzugeben, starb aber, bevor ihm das möglich war. Das Schränkchen gelangte schließlich zu Napoleons zweiter Frau, Kaiserin
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