Cotton Malone 05 - Der Korse
erzählen als nötig.
Er beobachtete, wie gegen die Kälte eingemummte Menschen auf der Treppe nach oben strömten. Noch mehr Leute benutzten die Aufzüge, die zwischen den frei liegenden Stahlstreben zur zweiten Plattform hochfuhren. Eine lärmende Menge von Mittagsgästen betrat das Restaurant. Ein kalter Wind fuhr zwischen den braungrauen Metallträgern hindurch, die rundum spinnennetzgleich nach oben strebten.
»Falls Sie das Treffen morgen belauschen wollen, bezweifle ich, dass es Ihnen gelingen wird, den Saal zu verwanzen«, meinte Meagan. »Mein Informant sagte mir, dass der Club seine Sitzungsräume vor, während und nach den Treffen absucht.«
»Wir brauchen keine Wanzen«, stellte Stephanie klar.
Sam sah sie an, und sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, das ihm gar nicht gefiel.
»Haben Sie beide jemals gekellnert?«
40
Eliza genoss tatsächlich ihre Unterhaltung mit Henrik Thorvaldsen. Er war ein intelligenter, schlagfertiger Mann, der keine Zeit mit Smalltalk verschwendete. Er wirkte wie ein aufmerksamer Zuhörer, ein Mensch, der Fakten aufnahm, sie einordnete und dann rasch zu Schlussfolgerungen kam.
Genau wie sie selbst.
»Napoleon erkannte, dass Krieg gut für die Gesellschaft war«, sagte sie. »Wie nichts anderes regte der Krieg die besten Denker des Kaisers zu einer immer größeren Steigerung ihrer Fähigkeiten an. Er entdeckte, dass Wissenschaftler kreativer waren, wenn eine Bedrohung real war. Die Warenproduktion wurde innovativer und produktiver. Die Leute waren gehorsamer. Er fand heraus, dass die Bürgerschaft, wenn sie bedroht war, nahezu jede Rechteverletzung von Seiten der Regierung duldete, solange sie nur beschützt wurde. Aber zu viel Krieg war destruktiv. Die Menschen ertragen ihn nur bis zu einem gewissen Grad, und Napoleons Feinde sorgten dafür, dass es weit mehr Krieg gab, als er je beabsichtigt hatte. Zuletzt verlor er jegliche Regierungsfähigkeit.«
»Ich begreife nicht, wie man Krieg überhaupt etwas Gutes nennen kann«, entgegnete Thorvaldsen. »So vieles ist daran falsch.«
»Er führt zu Tod, Vernichtung, Zerstörung und Verschwendung. Aber Kriege hat es immer gegeben. Wie kann etwas absolut Falsches eine solche Konstante sein? Die Antwort ist einfach: Der Krieg funktioniert. Die größten technologischen Leistungen der Menschheit waren immer das Ergebnis von Kriegen. Schauen Sie sich doch den letzten Weltkrieg an. Wir haben gelernt, das Atom zu spalten und in den Weltraum zu fliegen, ganz zu schweigen von zahllosen Fortschritten in Elektronik, Naturwissenschaft, Medizin und Technik. Und das alles, während wir einander in einem nie dagewesenen Ausmaß abgeschlachtet haben.«
Er nickte. »Es ist etwas Wahres an dem, was Sie sagen.«
»Die Fakten sind sogar noch dramatischer, Herr Thorvaldsen. Schauen Sie sich einmal die amerikanische Geschichte an. Amerikas Wirtschaft ist so zyklisch wie eine Uhr – es gibt einen Kreislauf von Boom, Rezession und Depression. Aber hier ist eine Tatsache. Jede einzelne von Amerikas zyklischen Depressionen hat sich während einer Periode unzureichender Militärausgaben ereignet. Es gab Depressionen nach dem Krieg von 1812, dem Bürgerkrieg in den Achtzehnhundertsechzigerjahren und dem Spanisch-Amerikanischen Krieg am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Große Depression der Dreißigerjahre kam zu einem Zeitpunkt nach dem Ersten Weltkrieg, als Amerika sich von der Welt isolierte und sein Militär buchstäblich demontierte. Ein weiterer Krieg war nötig, um es wieder schlagkräftig zu machen.«
»Klingt, als hätten Sie sich sehr mit diesem Thema beschäftigt.«
»Das habe ich, und das Ergebnis ist eindeutig. Kriege ermöglichen es, Gesellschaften stabil zu regieren. Ein Krieg gibt der Gesellschaft eine klare äußere Notwendigkeit, die politische Herrschaft zu akzeptieren. Beendet man alle Kriege, wird auch die nationale Souveränität schließlich enden – das ist ein Konzept, das Napoleon verstanden hat. Vielleicht war er tatsächlich der erste moderne Staatenlenker, der das begriff.«
Der Speisesaal im Le Grand Véfour leerte sich allmählich. Die Mittagessenszeit näherte sich ihrem Ende, und Eliza sah zu, wie immer mehr Gäste sich voneinander verabschiedeten und gingen.
»Napoleon hatte vor, nicht nur Frankreich, sondern das ganze eroberte Gebiet vom Kriegszustand in eine friedensorientierte Gesellschaft überzuführen«, sagte sie. »Aber er begriff, dass er dazu einen geeigneten Ersatz für den Krieg
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