Cotton Malone 05 - Der Korse
Bürgersteig entlang. Zu seiner Linken, auf der anderen Seite einer vielbefahrenen Straße, lag der Tower, dessen taupefarbene Mauern vom Licht der Natriumdampflampen übergossen waren. Dort, wo einmal ein riesiger Verteidigungsgraben gewesen war, wogte jetzt ein Meer aus smaragdgrünem Wintergras. Ein kalter Wind strich von der nahe gelegenen Themse heran, wo in einer gewissen Entfernung die angeleuchtete Tower Bridge zu sehen war.
»Guten Abend, Lord Ashby.«
Die Frau, die neben ihn trat, war zierlich, hatte kurz geschnittenes Haar, war Ende fünfzig oder Anfang sechzig und unübersehbar amerikanisch. Und sie trug einen grün-goldenen Schal. Genau, wie man es ihm gesagt hatte.
»Sie sind neu«, sagte er zu ihr.
»Ich bin die Chefin.«
Diese Information weckte seine Aufmerksamkeit.
Er hatte seine übliche Kontaktperson zum amerikanischen Geheimdienst bei mehreren Stadtführungen durch London getroffen. Sie hatten die Führung durch das British Museum mitgemacht, Shakespeares London und Old Mayfair besichtigt und befanden sich nun auf den Spuren von Jack the Ripper.
»Und wer sind Sie?«, fragte er lässig.
»Stephanie Nelle.«
Die Gruppe hielt, und der Führer verbreitete sich über die Tatsache, dass das Haus vor ihnen der Ort sei, wo das erste Opfer des Rippers gefunden worden sei. Während die anderen sich auf den Führer konzentrierten, packte Stephanie Ashby am Arm und zog ihn hinter die Gruppe zurück.
»Sehr passend, dass wir uns ausgerechnet auf dieser Führung treffen«, sagte sie. »Jack the Ripper hat die Leute terrorisiert und wurde ebenfalls nie gefasst.«
Er lächelte nicht über ihren Versuch zur Ironie. »Ich könnte meine Beziehung zu Ihnen jetzt beenden und gehen, falls Sie meine Hilfe nicht länger benötigen.«
Die Gruppe bewegte sich wieder vorwärts.
»Mir ist klar, dass der Preis, den wir werden bezahlen müssen, Ihre Freiheit ist. Aber das bedeutet nicht, dass mir das gefällt.«
Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Er musste diese Frau und die Macht, für die sie stand, beschwichtigen, zumindest für weitere vierundzwanzig Stunden und auf jeden Fall so lange, bis er das Buch in Händen hielt.
»Soviel ich weiß, sind wir Verbündete«, sagte er.
»Sie haben versprochen, heute Informationen zu liefern. Ich bin persönlich gekommen, um zu hören, was Sie zu bieten haben.«
Die Führung hielt bei einem weiteren bemerkenswerten Schauplatz.
»Peter Lyon wird morgen den Invalidendom in die Luft sprengen«, sagte er mit leiser Stimme. »An Weihnachten. Als Kundgebung.«
»Wofür?«
»Eliza Larocque ist eine Fanatikerin. Sie verfügt über eine alte Weisheitslehre, nach der ihre Familie sich seit Jahrhunderten richtet. Ziemlich kompliziert und nach meiner Ansicht allgemein gesehen ohne Bedeutung, aber es gibt eine französische Extremistengruppierung – gibt es so was nicht immer? –, die ein Zeichen setzen möchte.«
»Wer ist es denn diesmal?«
»Es geht um die Diskriminierung von Einwanderern durch das französische Rechtssystem. Nordafrikaner, die vor Jahren nach Frankreich geströmt sind und dort als Gastarbeiter willkommen geheißen wurden. Jetzt bilden sie zehn Prozent der Bevölkerung und haben es satt, unterdrückt zu werden. Also wollen sie ein Zeichen setzen. Larocque hat die finanziellen Mittel und möchte die Tat nicht für sich beanspruchen, und so hat Peter Lyon eine Partnerschaft vermittelt.«
»Ich möchte den Zweck dieser Partnerschaft verstehen.«
Er seufzte. »Können Sie sich das nicht selbst zurechtlegen? Frankreich befindet sich mitten in einem demographischen Umbruch. Diese algerischen und marokkanischen Einwanderer werden zum Problem. Sie sind inzwischen weit mehr französisch als afrikanisch, aber die fremdenfeindliche Rechte und die säkularistische Linke hasst sie. Wenn die Geburtenraten so bleiben, wie sie derzeit sind, werden diese Einwanderer in zwei Jahrzehnten zahlreicher sein als die Franzosen.«
»Und was hat das Sprengen des Invalidendoms mit dieser Unvermeidlichkeit zu tun?«
»Es geht um ein Symbol. Diese Einwanderer nehmen ihren zweitrangigen Status übel. Sie wollen ihre Moscheen. Ihre Freiheit. Das Recht, sich politisch Gehör zu verschaffen. Einfluss. Macht. Das, was alle anderen haben. Aber die Franzosen wollen ihnen das nicht zugestehen. Wie ich hörte, sind sehr viele Gesetze verabschiedet worden, um sich diese Menschen vom Leib zu halten.« Er hielt inne. »Und der Antisemitismus nimmt ebenfalls in ganz Frankreich drastisch zu.
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