Couchgeflüster
und er sieht irgendwie hilflos und beinahe unglücklich aus.
Mist. Was mache ich denn jetzt? Ich muss etwas sagen! Jetzt sofort!
«Ja … ähm … Bitte, kommen Sie doch herein», stottere ich und trete einen Schritt zur Seite. Dabei wäre ich beinahe über Mamas schwarze Slipper gestolpert. «Verzeihen Sie, ich war gerade dabei … ähm … mir ein Paar bequeme Schuhe anzuziehen.»
Er lächelt erleichtert. «Ach, kein Problem. Zu Hause laufe ich auch nur barfuß. Aber eigentlich muss
ich
mich für die Verspätung entschuldigen. Ich hatte den Termin aber nicht
vergessen
, wenn Sie wissen, was ich meine.»
Nein, weiß ich nicht. Und wieso überhaupt vergessen? Verständnislos blicke ich ihn an.
«Wie Sie bereits am Telefon vermutet hatten, Dr. Nitsche, scheint es sich tatsächlich nur um eine retrograde Amnesie zu handeln.»
Amnesie???
Was bedeutet das denn? Dass sein Gedächtnis voller schwarzer Löcher ist?
Am liebsten würde ich ihm ja um den Hals fallen, aber ich muss vorsichtig sein und genau überlegen, was zu tun ist. Auf keinen Fall lasse ich ihn wieder gehen. Nie wieder!
Also erst mal durchatmen und sich der Situation anpassen, biegsam wie der Wind im Bambus gegen das Leben im Sturm … Oder war es andersrum? Den genauen Wortlaut kriege ich jetzt in der Aufregung nicht zusammen. Außerdemmuss ich mich konzentrieren. Und vor allem diese nervige kleine Stimme in meinem Hinterkopf verdrängen, die mir dauernd zuflüstert, dass ich mich nicht für Mama ausgeben darf. Ich weiß ja, dass es nicht richtig ist. Aber es handelt sich hier eindeutig um einen Notfall!
«Ähm, ja. Also bitte hier entlang.» Lächelnd weise ich mit einer Handbewegung den Flur entlang, als wäre ich hier die Hausherrin. Eilig schlüpfe ich in die Slipper und folge ihm dann, soweit das in diesen Schuhen überhaupt möglich ist.
Ben wartet geduldig im Flur, doch als ich an ihm vorbeihusche und das Behandlungszimmer betreten will, bleibt er stehen.
«Haben Sie an den weißen Raum gedacht?»
Hä?
Was hat das denn zu bedeuten? Ich habe zwar keine Ahnung von Therapien oder wie Therapeuten sich verhalten, aber Mama beantwortet Fragen gerne mit Gegenfragen. Ein Versuch kann also nicht schaden.
«Ähm … weißen Raum?» Meine Stimme verrutscht etwas, und ich hoffe, dass Ben meine Unsicherheit nicht bemerkt.
«Ja, weiße Möbel, weiße Teppiche, weiße Vorhänge oder so», erklärt er.
Na, das hat schon mal ganz gut geklappt. Aber soll das jetzt heißen: Er kann sich nur in weißen Räumen aufhalten? Oder hasst er Weiß?
«Tja, leider sind nur die Wände weiß», sage ich, öffne die Tür und bleibe an der Schwelle stehen. «Sehen Sie selbst.»
Mein ehemaliges Kinderzimmer wurde in einen lichtdurchfluteten Wohnraum mit modernem Mobiliar verwandelt.Quer zu den beiden Fenstern befindet sich ein zierlicher antiker Schreibtisch aus hellem Kirschholz mit einem gepolsterten Lederstuhl. Davor stehen zwei Thonet-Stühle mit Armlehnen, wie man sie aus Cafés kennt. Hinterm Schreibtisch lockert ein großes farbenfrohes Gemälde den Raum auf. Ebenso wie die diversen Sitzgelegenheiten. Unbestritten ist aber die dunkelrote Samtcouch an der Wand das Prunkstück des Zimmers. Man liegt darauf so bequem wie in einem Bett und hat alles im Blick. Soweit ich mich erinnere, hat Mama extra einen Farb-Coach engagiert, damit sich Patienten so wohl wie möglich fühlen. Hoffentlich findet Ben die Farben nicht so ätzend, dass er kehrtmacht und mich wieder verlässt.
Nein, Ben bleibt.
Zögernd betritt er den Raum, sieht sich kurz um und seufzt erleichtert. «Weiße Wände sind okay.»
Aha! Jetzt hab ich es kapiert. Er hat ein Problem mit weißen Sachen. Eine Phobie? Wäre möglich. Mir fällt unser erstes Zusammentreffen an der Currywurstbude ein und wie er mein weißes Kleid fixiert hat.
Ich tue jetzt mal so, als sei ich tatsächlich seine Therapeutin und diagnostiziere: Ben leidet unter retrograder Amnesie und obendrauf unter einer Weißphobie. Mann, das wird spannend. Vor allem, weil ich nicht weiß, was «retrograd» bedeutet.
«Wo?» Bens Stimme dringt in meine Gedanken.
Was hat die Frage denn jetzt schon wieder zu bedeuten?
«Wo?», wiederhole ich automatisch und fühle mich ein bisschen so, als würde ich mit einem Kleinkind sprechen. Aber vielleicht funktioniert der Wiederholungstrick ja.
«Wo soll ich mich hinsetzen?», präzisiert Ben.
«Oh, ach so. Ähm … Sie haben freie Platzwahl», antworte ich und zeige mit
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