Crashkurs
weiter und behaupte, dass die meisten Marktteilnehmer überhaupt nicht wissen, was es mit dieser oder jener Zahl auf sich hat. Fragen Sie mal probehalber irgendwelche Händler: »Heute Mittag kommt der ZEW-Index. Liegt diese Zahl etwa bei –50 oder +50 und handelt es sich dabei um Indexpunkte oder Prozent?« Geschätzte 70 Prozent würden falsch antworten, und vielleicht 20 Prozent hätten richtig geraten (und nur die restlichen 10 Prozent haben es vielleicht wirklich gewusst …).
Das konkrete Wissen spielt schlicht keine Rolle. Wann immer eine neue Zahl veröffentlicht wird, lautet die Frage der Händler nur: »Ist das besser als das, was die Analysten erwartet haben, oder schlechter?« Die veröffentlichte Wirtschaftskennziffer wird von den Nachrichtenagenturen meist zusammen mit einer weiteren Zahl geliefert, der sogenannten Analystenschätzung. Dazu werden unterschiedlich viele Experten der Banken nach ihrer Prognose für diese oder jene Zahl befragt. Aus all den Antworten wird ein Durchschnitt gebildet, und das ist dann die Analystenerwartung. Ob diese Schätzung von einem Volkswirt abgegeben wurde oder ob dieser mangels Zeit einen Praktikanten die Zahl auf das Antwortformular hat schreiben lassen, bleibt ungeklärt. Häufig hat das schon etwas von Kaffeesatzlesen und Schwarze-Katze-bei-Vollmond-hinterm-Hof-Vergraben. Entsprechend oft weichen die veröffentlichten Zahlen von eben diesen Analystenerwartungen ab. Je stärker die Abweichung, umso hysterischer reagiert der Markt: »In den USA wurden letzten Monat 30 000 Stellen abgebaut« – die Analysten hatten mit 50 000 gerechnet. Die Händler springen vor Freude aus den Schuhen und die Aktien wie von der Tarantel gestochen nach oben. Aber nur für wenige Minuten. Dann ist der Spuk vorbei, und es geht in die gleiche Richtung weiter wie vor der Bekanntgabe der Zahlen.
Da kann die veröffentlichte Wirtschaftskennzahl noch so grottenschlecht sein – wenn sie nur besser war als die mysteriöse »Analystenerwartung«, freut sich der Markt wie ein Schnitzel über steigende Kurse. Verrückte Börsenwelt.
Wenn man sich umhört, weiß eigentlich keiner so recht, wer diese Analysten sind, deren falscher Blick in die Kristallkugel für den Kurssprung gesorgt hatte. Fest steht nur, dass diese Zahl dazu geführt hat, dass die Marktkapitalisierung (der Börsenwert) der deutschen Unternehmen mal eben um einige Milliarden Euro gestiegen ist. Ganz schön einflussreich so eine Analystenschätzung, nicht wahr?
Allerdings muss auch mal eine Lanze für die Berufsgruppe der Analysten gebrochen werden. Die meisten machen in der Tat einen ausgezeichneten Job. Doch es ist schon fast mehr Kunst als Mathematik, wenn die reale Wirtschaft vernünftig analysiert werden soll, aber häufig mit unrealistischen »offiziellen« Zahlen gearbeitet werden muss. Jede Zahl zu hinterfragen und selbst zu recherchieren ist schlicht nicht möglich.
Diese ganze Zahlenflut hat zwar kurzfristig – also für einige Minuten – immer starke Auswirkungen. Für den langfristigen Anleger ist das alles aber völlig uninteressant. Der muss wissen, wie entwickelt sich die Wirtschaft oder die Firma, deren Aktie er besitzt, in den nächsten Monaten und Jahren. Dafür benötigt er das große Bild.
Selbst die Porsche AG hat den Unsinn des sich immer schneller drehenden Zahlenkarussells erkannt und weigert sich seit Jahren, Quartalsergebnisse zu veröffentlichen. Die Begründung ist einleuchtend: Die Zahlen können im Lauf des Jahres stark schwanken und haben daher kaum Aussagekraft für das Gesamtergebnis. Die Porsche-Aktie ist wegen dieser Verweigerung der Quartalsergebnisse aus dem MDax geflogen. Da war Porsche-Chef Wiedeking konsequent. Wenn andere das nur auch wären. Denn diese Fixierung auf Quartalsergebnisse hat unschöne Auswirkungen. Viele Manager haben nicht mehr das langfristige Wohl des Unternehmens und der Mitarbeiter im Sinn, sondern denken nur noch von Quartal zu Quartal. Da werden Entscheidungen getroffen, die langfristig unsinnig und sogar schädlich sind, nur um einen kurzfristigen Erfolg zu haben, damit die nächsten Quartalsergebnisse gut aussehen. So gibt es beispielsweise in vielen Bankhäusern klare Vorgaben an die Kundenberater, wie viele Bauspardarlehen, Versicherungen und Fonds sie verkaufen müssen, um ihr Quartalsziel zu erreichen. Da spielt es keine Rolle, ob der Kunde mit diesen Produkten langfristig Erfolg hat oder den Kram überhaupt braucht. Vielleicht ist dieser Kunde auf
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