Crescendo
einer regnerischen Nacht in der Dunkelheit über unbefestigte Straßen zu fahren. Aber so groß war ihre Reue auch wieder nicht, dass sie den Versuch unterlassen hätte, aus der Sorge ihrer Besucherin Kapital zu schlagen.
»Sind Sie gekommen, um es mir zu erzählen?«
»Aber Sie wissen es doch schon.«
»Ich muss es aus Ihrem Munde hören, um es wirklich glauben zu können.«
»Ich hab jetzt so lange nichts gesagt, nicht mal Ruth gegenüber, obwohl ich sicher bin, dass Ihr Vater es ihr erzählt hat. Wie sind Sie dahinter gekommen?«
»Ich hab die Papiere meiner Tante durchgesehen, Fotos entdeckt, die Daten, die mir bekannt sind, mit denjenigen in ihren Tagebüchern verglichen.«
Amelia nahm wieder einen langen Schluck und drückte sich dann das warme Glas an die Stirn.
»Ich hätte es wissen müssen. Sie sind so gescheit, genau wie Ihre Mutter. Es war klar, dass Sie es herausfinden würden. Na ja, zumindest breche ich mein Wort nicht, wenn Sie es schon wissen. Ich musste es Ihrem Vater in der Kirche auf die Bibel schwören, ein paar Tage nach Ihrer Geburt. Er hat mich eine Zeitlang ziemlich regelmäßig besucht.« Sie lächelte wehmütig und sagte dann traurig: »Aber seine Besuche wurden immer seltener und hörten bald ganz auf.«
Amelia trank erneut einen Schluck und schien verblüfft, wie wenig noch im Glas war. Nightingale machte für sie beide einen frischen Grog, einen schwachen für sich, einen kräftigen für Amelia, und stellte außerdem Käse und Kräcker auf den Tisch.
»Erzählen Sie weiter.«
»Er war wochenlang völlig aufgewühlt, vor Trauer außer sich. Ich kann das gar nicht beschreiben. Wir haben uns oft einfach in den Armen gelegen und gemeinsam geweint. Als er in jener Nacht zu mir ins Haus kam, war George natürlich mal wieder unterwegs, wie ja fast immer. Ich dachte, er wollte Lulu besuchen, aber nein, er wollte zu mir.« Sie lächelte triumphierend. »Ich hab ihn nur in meinen Armen gehalten, bis er sprechen konnte.«
Nightingale lehnte sich aus dem kreisrunden Lampenschein zurück, sodass ihr Gesicht im Schatten lag und ihre verwunderte Miene nicht zu erkennen war. Amelias Worte waren ihr ein Rätsel, aber sie schwieg, weil sie fürchtete, jede Frage könnte den Redefluss zum Versiegen bringen. Amelia trank ihren Rum, und ihre Augen leuchteten, während sie ihre Erinnerungen durchlebte.
»Wissen Sie, es tut so gut, endlich reden zu können. Seit Ihrer Ankunft habe ich an nichts anderes mehr gedacht. In meinem Kopf überschlagen sich die Erinnerungen. Als Sie an dem ersten Sonntag in die Kirche gekommen sind, dachte ich, ich kriege einen Herzinfarkt.«
»Wussten Sie gleich, wer ich bin?«
»Aber natürlich. Father Patrick hatte uns gesagt, dass Henrys Tochter vielleicht kommen würde, und als Sie reinkamen, habe ich sie sofort erkannt. Sie sehen genauso aus wie sie. Wirklich erstaunlich. Die Mundpartie ist ähnlich wie die von Ihrem Vater, und Sie haben seine Augen, aber ansonsten schlagen Sie ganz nach ihr. Obwohl Sie groß sind und Lulu ein zierliches kleines Ding war …«
Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Ihr Panikgefühl war so stark, dass sie auf einmal anfing zu keuchen und ihre Atemzüge nicht mehr genügend Sauerstoff in die Lunge beförderten. Amelia merkte es nicht. Ihre Wangen waren rosig, ihre Augen glänzten, während sie weiterplapperte. Nightingale brachte ihre Atmung unter Kontrolle und bannte jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht.
»Louise?«
Nightingale streckte den Arm aus, um einen Schuss Rum in ihren schwachen Grog zu gießen, und erschrak über das unkontrollierte Zittern ihrer Hände.
»Louise, alles in Ordnung? Sie zittern ja am ganzen Körper.«
Sie brachte ein Nicken zustande, von dem sie hoffte, dass es überzeugend wirkte, doch Amelias Miene verriet ihr, dass dem nicht so war. Auch ein kräftiger Schluck Grog half nichts.
»Mir geht’s gut.« Nur dass ihre Stimme jetzt das Gegenteil bekundete.
»Sie wussten es gar nicht.« Amelia war entsetzt. »Sie haben mich reingelegt!«
Der anklagende Ton brachte Nightingale wieder ein bisschen zur Besinnung.
»Das stimmt nicht. Ich hatte rausgefunden, dass die Affäre meines Vaters auch mit seiner Hochzeit noch nicht zu Ende war und dass ich … dass er … aber nicht, dass ich … dass …« Ihre Stimme erstarb, und sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Ich habe doch meine Geburtsurkunde. Das ist unmöglich.«
Die Empörung der älteren Frau verlor sich, als sie sah, wie
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