Crescendo
Sie mir Dinge verschwiegen, wichtige Dinge, die zu wissen ich ein Recht habe. Ich musste Nachforschungen anstellen und herumspekulieren. Nett ist das nicht, oder? Nicht zu fassen, dass Sie so grausam sein können.«
Während sie sprach, merkte Nightingale mit Entsetzen, dass ihre angeblichen Gefühle tatsächlich Realität wurden. Amelias Reaktion hatte ihr Angst gemacht. Sie konnte nicht mehr klar sehen, weil ihr Tränen in die Augen schossen, obwohl sie zu wütend war, um weinen zu wollen.
»Wie konnten Sie nur?« Sie schleuderte die Worte nach hinten über die Schulter in Amelias aschfahles Gesicht und floh aus der Kirche.
Sofort durchnässte der Regen ihr Haar und kühlte sie ab. Sie streifte sich die Kapuze über und rannte weiter, froh, dass ihre Tränen fortgespült wurden. Als sie Mill Farm schließlich erreichte, war sie erschöpft und bereute ihren Ausbruch in der Kirche aus tiefstem Herzen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte sich manipulativer Vernehmungsmethoden bedient und war dann selbst so von ihnen mitgerissen worden, dass sie das so schnell nicht vergessen würde. Amelia musste sie ja für gefährlich labil halten. Mit ihrer Freundschaft war es vermutlich vorbei. Sie bedauerte das nicht ganz so sehr, wie sie es eigentlich hätte tun müssen, denn die Frau war schließlich sehr nett zu ihr gewesen, aber ein schlechtes Gewissen hatte sie trotzdem.
Bei dem Dauerregen wurde es bald dunkel, und sie ging lächerlich früh ins Bett. Ein unbekanntes Geräusch schreckte sie auf. Im Licht der Taschenlampe, die sie immer griffbereit hatte, sah sie auf die Uhr: zehn vor zehn. Vielleicht hatte eine heftige Windböe sie aufgeweckt, aber sie wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass sie allein war.
Als sie gerade die Treppe hinuntergehen wollte, hörte sie ein lautes Scheppern. Eindeutig das Geräusch eines alten Melkeimers, der umgestoßen worden war, und sie wusste genau, wo sie ihn stehen gelassen hatte, neben der Hintertür. Sie schaltete die Taschenlampe aus und wartete ab, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten.
Das Dröhnen des Blutes in ihren Ohren ahmte das Geräusch des Regens draußen nach, als sie leise die Treppe hinunterschlich und dabei darauf achtete, nicht auf die morschen Eckstufen zu treten, die ihr Gewicht nicht mehr tragen würden. Draußen fiel von der Vorderseite des Hauses schwaches Licht in den Garten. Drinnen war die Dunkelheit undurchdringlich. Nightingale schob sich vorwärts, ertastete mit der linken Hand den Küchentisch und die Stühle, während sie mit der Rechten fest die Taschenlampe umklammert hielt.
Ein jähes Klopfen an der Hintertür ließ sie fast vor Panik aufschreien.
»Louise? Louise, sind Sie da?« Es war eine Frauenstimme. Amelia.
Vor Erleichterung leise fluchend, schaltete Nightingale die Taschenlampe wieder an und öffnete die Tür. Eine Alkoholfahne schlug ihr entgegen.
»Gott sei Dank! Das ganze Haus war dunkel, und ich dachte schon … Ach, ist ja auch egal, was ich gedacht habe. Sie sind wohlauf, Gott sei Dank. Warten Sie, ich geh schnell ums Haus und mach das Licht an meinem Auto aus, bevor die Batterie den Geist aufgibt.«
Sie trippelte mit der Taschenlampe davon. Nightingale schaltete die Lampen ein und war gerade dabei, den Ofen wieder anzuheizen, als ihre Besucherin zurückkam.
»Sie sind ja pitschnass, Amelia. Setzen Sie sich hierher und wärmen Sie sich auf. Tee oder einen Grog?«
»Lieber einen Grog, bitte.«
Was hatte sie anderes erwartet?
Amelia streckte Hände und Füße zum Ofen und seufzte tief.
»Das tut gut.«
»Was um alles in der Welt machen Sie hier?«
»Ich hab mir Sorgen um Sie gemacht. Ich musste daran denken, was Sie gesagt haben, das mit dem Mitgefühl, das ich hätte zeigen sollen. Und Sie waren richtig außer sich. Je mehr ich an Sie gedacht habe, desto besorgter wurde ich. Schließlich hab ich es nicht mehr ausgehalten und musste mich einfach vergewissern, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt komme ich mir natürlich albern vor, und anscheinend hab ich Sie auch noch aus dem Bett geholt.«
»Das macht nichts. Hier, nehmen Sie das.« Das Wasser war noch nicht heiß, aber schon warm genug.
Amelia nahm einen so tiefen Schluck, dass Nightingale sich bemüßigt sah, ihr gleich wieder nachzuschenken. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihr Ausbruch eine über sechzigjährige Frau dazu veranlasst hatte, in
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