Crescendo
Schritt nach vorn, ihm den Kopf nach hinten reißen und ihm die Kehle aufschlitzen. Es wäre in Sekundenschnelle vorbei, und sie hätte sich von dem Bösen befreit, das da auf den Steinen vor ihr herumkroch. Sie würde der Welt einen Gefallen tun. Fast ohne nachzudenken, berührte sie die winzige Klinge in ihrer Hand, staunte, wie scharf sie geschliffen war. Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
Der Mann sah auf, seine Augen huschten von dem Messer zu ihrem Gesicht und weiteten sich vor Entsetzen. Der Anblick entzückte sie.
»Nein, bitte nicht.« Er wollte aufstehen, aber die wiederholten Schläge gegen sein Kinn hatten sein Nervensystem endlich doch betäubt, und er schaffte es nur, auf ein Knie zu kommen, fast wie zu einem Heiratsantrag. »Ich flehe dich an. Um Gottes willen, nein.«
Als sie den Mann so hilflos vor sich sah, wie er zu ihr hochschaute und um Gnade bettelte, wurde sie von einem köstlichen Gefühl der Lust übermannt. Ihr Gesicht rötete sich, und sie öffnete den Mund vor Freude. Er schien den Ausdruck zu erkennen, hatte ihn vielleicht früher in seinem eigenen Spiegel gesehen, denn er wich vor ihr zurück.
Sie trat auf ihn zu, ohne jede Eile, jetzt, wo er außer Gefecht gesetzt war.
»Nein!«
»Und warum nicht, du krankes Schwein? Du hast es verdient. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Sie hob das Messer.
»Das kannst du nicht machen. Du bist Polizistin, du kannst mich nicht töten. Das darfst du nicht.«
Sie lachte, ein schreckliches Geräusch, und er kam mühsam auf die Beine, blieb geduckt vor ihr stehen.
»Knie dich wieder hin und bettle.« Sie spuckte ihm die Worte förmlich entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, dann gehorchte er.
»Und jetzt lass hören, warum du es verdient hast weiterzuleben.«
»Ich habe Rechte. Das kannst du nicht machen.«
»Du hast gerade versucht, mich zu töten. Ich verteidige mich nur – töten oder getötet werden. Alle Welt wird mir glauben, dass es Notwehr war.«
»Das stimmt nicht, du siehst doch, ich ergebe mich!« Er legte die blutigen Handgelenke zusammen und hob die Arme, als wollte er sich Handschellen anlegen lassen.
Sie schnaubte höhnisch.
»Siehst du, siehst du, ich ergebe mich! Du kannst mich nicht umbringen. Ich bin jetzt dein Gefangener.«
Er schluchzte jetzt, und ein Rotzfaden tropfte ihm aus der Nase. Es war jämmerlich.
Nightingales Hass ließ nach, und auf einmal konnte sie wieder klar denken. Entsetzt begriff sie, dass sie um ein Haar einen Menschen getötet hätte, der sie um Gnade anflehte, und durch die Erkenntnis wurde ihr körperlich schlecht.
Mit ihrem Blutrausch verschwand aber auch ihr Allmachtsgefühl. Sie war eine halbnackte Frau, vermutlich schwerer verletzt, als ihr bewusst war, und hielt auf einer einsam gelegenen Farm einen Serienmörder mit einem seiner eigenen Messer in Schach. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihn zu provozieren und seine angebotene Kapitulation nicht anzunehmen?
Nightingale schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Der Mann kniete noch immer mit erhobenen Armen vor ihr. Sie wusste nicht, ob er ihren Gesinnungswandel spürte, aber er blickte sie jetzt fragend an, nicht mehr voller Angst. Und ihr war klar, falls er irgendeine Schwäche bei ihr witterte, würde er sofort wieder zum Angriff übergehen.
Sie setzte eine harte Miene auf und biss sich entschlossen auf die Zähne, aber hinter dieser Maske überlegte sie krampfhaft, was sie jetzt machen sollte. Ein Teil von ihr wollte ihn noch immer töten, weil er sonst auch in Zukunft eine Bedrohung für sie darstellen würde, aber sie wurde nicht mehr von Hass angetrieben, nur noch von tiefstem Abscheu. Die Vorstellung, ihn anzufassen, widerte sie an.
»Bind deine Fußknöchel zusammen. Los, dalli.« Der Klang ihrer Stimme erschreckte sie. Sie schien einem anderen Menschen zu gehören, brutal und skrupellos. Er zögerte. »Mach schon, verdammt, sonst schneid dir die Kehle durch.«
Er ließ sich nach hinten rollen und hob die Knie an, als wollte er ihr gehorchen, aber irgendetwas hatte sich verändert. Nightingale duckte sich leicht, tänzelte angriffsbereit, doch dann merkte sie, dass er sie nicht mehr ansah. Er starrte über ihre Schulter hinweg in den Himmel.
»Alter Trick«, dachte sie und ignorierte die unausgesprochene Aufforderung, sich umzudrehen.
»Los, bind deine …« Sie verstummte.
Sie hörte nämlich etwas. Zuerst dachte sie, es sei ein Auto, das sich den Berg hinaufquälte, aber der Klang und der Rhythmus
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