Crescendo
Tante stammte. Das Lamm Gottes stand auf einem Dornenfeld. Dahinter war eine kunterbunte Schar prächtig gestalteter Vögel, Tiere und Fische. Davor erhob sich ein großer und bedrohlicher Wolf, eine Schreckensgestalt mit mächtigen Schultern, heraushängender Zunge, mit Beinen, die so kräftig waren, dass sie endlose Strecken auf der Suche nach Beute zurücklegen konnten, und mit einer empfindlichen Nase, die jedes Tier aufspüren konnte, wo auch immer es sich verbarg.
Seine Augen waren auf das Gewimmel hinter dem Lamm gerichtet. Und in ihnen las Nightingale einen ewigen Hunger, so groß, dass er die Welt verschlingen konnte. Das war der Teufel, der auf Erden wandelte. In diesen Wolfsaugen erkannte Nightingale die maßlose Lust, Verdorbenheit und Gier all der Menschen wieder, die sie je verhaftet hatte. Einen erschreckenden Augenblick lang fühlte sie sich verwundbar. Wenn der Wolf endloses Entsetzen bedeutete, so verrieten die Augen des Lammes ewigen Frieden. Sein Blick war das Wesen der Erlösung und der Liebe schlechthin. Doch das Gesicht war traurig, als wüsste es, welches Opfer zur Errettung derjenigen, die hinter ihm Zuflucht gesucht hatten, gebracht werden musste.
»So, wir können.«
Nightingale riss sich nur widerwillig los, als würde sie im letzten Moment daran gehindert, eine wichtige Entdeckung zu machen.
Bei Amelia zu Hause wurde sie sofort mit dem Einschenken des Sherry beauftragt, während die ältere Frau das Gemüse zubereitete.
»In zehn Minuten können wir essen«, rief sie, und Nightingale schlenderte ins Wohnzimmer auf der anderen Seite der Diele. Das hintere Ende des Raumes war in goldenes Sonnenlicht getaucht. Im Schatten an der Tür stand ein Stutzflügel mit aufgeschlagenen Noten. Ein Nocturne von Chopin. Sie erkannte die Melodie, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Das hatte sie ausgerechnet in der achten Klasse gespielt, als sie vierzehn war, in dem Winter, bevor sie zum ersten Mal von zu Hause weggelaufen war. Sie trank einen weiteren Schluck Sherry und setzte sich an das Instrument.
Ihre Finger waren steif, und sie spielte unsicher die ersten Arpeggios, dann fand sie ihren Rhythmus, langsamer als früher, aber noch immer sicher. Die Musik legte sich über sie wie ein sanftes Netz, umfing sie mit seidenen Tönen. Die Musik, das Gefühl, Teil von ihr zu sein, die wunderbare Wärme in ihrem Rücken und die Erinnerung an das kunstvolle Taufbecken in der Kirche verschmolzen, bis sie die Verbindung zwischen allem spüren konnte. Alles war, wie es sein sollte, und zum ersten Mal wusste sie, welchen Platz sie darin einnahm.
Sie hob die Augen und sah, dass Amelia sie anstarrte.
»Sie spielen sehr gut.« Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas hinzufügen, doch dann sagte sie bloß: »Wir können essen.«
Während Nightingale es sich schmecken ließ, fragte sie Amelia erneut nach ihrer Familie aus, aber die Gastgeberin parierte die Fragen geschickt, manchmal offen und ausführlich, dann wieder zurückhaltend, indem sie vorgab, etwas nicht zu wissen oder vergessen zu haben. Beim Apfelstrudel mit Eiscreme wechselte Nightingale das Thema und kam wieder auf ihre Tante und Lulu Bullock zu sprechen.
»Ich weiß, dass sie ein Liebespaar waren. Das geht aus dem Tagebuch meiner Tante glasklar hervor. Das muss doch damals ein Skandal gewesen sein.«
Amelia seufzte resigniert auf, während sie sich und Nightingale aus einer frisch geöffneten Flasche Wein nachschenkte. Sie hatte noch mehr getrunken als die Woche zuvor.
»Ein großer Skandal. Ein Riesenskandal.« Sie drehte ihr Glas zwischen den Fingern und lächelte. Es war kein angenehmes Lächeln. »Aber wenn man in einer so kleinen Gemeinde zur gehobenen Schicht gehört, hat man den Vorteil, dass die Leute einem einiges nachsehen. Ihre Tante, alle Nightingales, genossen großes Ansehen. Und Lulus Onkel war sogar Friedensrichter, noch dazu sehr vermögend.«
»Die beiden wurden also höflich ignoriert?«
»So könnte man es sagen. Irgendwann fingen die Leute wieder an, mit ihnen zu sprechen.«
»Wieso haben sie sich getrennt?«
Es war eine arglose Frage, aber Amelia wurde rot und nahm einen kräftigen Schluck Wein.
»Manche Beziehungen scheitern nun mal.«
»Und mein Vater? Wie war er eigentlich?«
»Er war ein Nomade, hielt es nirgendwo lange aus und liebte seine Freiheit, bis er Ihre Mutter kennen lernte.« Sie verstummte, blickte sich nach dem Wein um und hob in einer fragenden Geste die Flasche, doch Nightingale schüttelte
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