Crescendo
den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht mit Amelia. Sie war freundlich und nett, aber auch ausweichend, als ob sie ihr nicht traute oder etwas zu verbergen hätte.
Was mochte damals geschehen sein, das vielleicht noch skandalöser war als eine lesbische Beziehung? Sie würde ein anderes Mal versuchen müssen, es herauszufinden. Amelia war wieder in die Defensive gegangen, und heute würde sie ihr nichts mehr entlocken können. Nightingale gab der älteren Frau den erwarteten Kuss auf die Wange und lud sie für das folgende Wochenende zum Mittagessen bei sich ein. Vielleicht würde ja Mill Farm ihr Gedächtnis auf Trab bringen.
Kapitel siebzehn
Es war Montag, der 15. Juli. Die Schulferien hatten begonnen, und an der Nordküste von Wales tummelten sich die ersten Touristen. Der Campingplatz »Sea View«, dessen Name zwar nicht originell, aber zutreffend war, weil er tatsächlich Aussicht aufs Meer bot, war zur Hälfte belegt. In einer Woche würde er aus allen Nähten platzen. Die Familie Mackie war extra früh hergekommen, um die relative Ruhe wenigstens noch ein paar Tage genießen zu können, obwohl ihre Kinder, alle drei im Teenageralter, gerade diesem Umstand wenig abgewinnen konnten.
Die Älteste, Tasmin, von ihren Freundinnen Taz genannt, war sechzehn, gab sich älter und vermisste schon jetzt schrecklich ihre Freundinnen. Ihre Schwester Dawn war gerade dreizehn geworden und die Jüngste in der Familie, übte aber schon gern mit den Makeup-Sachen ihrer großen Schwester. Der vierzehnjährige Nathan war schlaksig, schmierte sich Gel in die Haare und hatte kräftige Schultern. Als einziger Junge und mittleres Kind war seine Position in der Familie paradox: Er wurde sowohl verwöhnt als auch übersehen.
Die Familie war zum zweiten Mal auf dem Campingplatz. Mrs Mackie, Irene, war gern hier, weil es ganz in der Nähe zwei Restaurants, ein Café und einen chinesischen Imbiss gab. Das hatte den Vorteil, dass die Familie öfter essen gehen würde, wenn ihr Mann Hugh nach ein paar Tagen nicht mehr so aufs Geld achtete. Und dann würde auch für sie der richtige Urlaub anfangen. Aber jetzt waren sie erst den zweiten Tag da, ein heikler Tag. Die Kinder waren zänkisch, weil sie auf dem Campingplatz noch niemanden in ihrem Alter kennen gelernt hatten, und Hugh war noch immer gestresst, weil die Erinnerungen an die Arbeit frisch waren und ihm die Müdigkeit nach der langen Autofahrt vom Vortag in den Knochen steckte. Irene war reizbar, weil sie, obwohl auch berufstätig, in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht nur alles gepackt und wieder ausgepackt hatte, sondern auch noch als Friedensstifterin, Hundegassiführerin, Krankenschwester, Köchin und Sozialarbeiterin tätig gewesen war, und dabei hatte sie doch auch Urlaub! Wenigstens das Wetter war schön.
Taz zog sich einen winzigen Bikini an, darüber ein trägerloses Oberteil und extrem kurze Shorts, und verdrückte sich mit einem Badetuch zum Strand, sobald sie mit dem Geschirrabtrocknen fertig war. Dawn quengelte, weil sie mitwollte, doch Taz war schon verschwunden.
»Wir essen um halb eins, junge Dame!«, rief Irene ihr noch nach und schickte Nathan dann mit Dawn auf den Spielplatz. Der Hund trottete an einer langen Leine glücklich hinterher. Nathan fand sich mittlerweile zu alt für Rutschen, Schaukeln und Klettergerüste, musste aber wohl oder übel gehorchen.
Am Strand zog die schlanke, langbeinige Taz schon bald die Blicke auf sich. Um elf hatte sie bereits zwei neue Freundinnen, Chloe aus der Nähe von London, und ein Mädchen, das den Spitznamen Boo hatte, aber ihren richtigen Namen nicht verraten wollte, weil er beknackt sei. Chloe und Boo war gleichaltrig und mit ihrer frischen Ausstrahlung auf andere Weise hübsch. Ganz in der Nähe spielten ein paar Jungs Fußball und strengten sich besonders an, als die Mädchen ihnen zuschauten.
»Mir ist heiß. Gehen wir ’ne Runde schwimmen?« Boo stand auf und wischte sich den Sand von den Waden.
»Ja klar.« Chloe sprang auf und lief zum Wasser. Taz blieb, wo sie war.
»Kommst du?«
»Nee, keine Lust.«
Boo zuckte die Achseln und sprintete mit schwingenden Hüften zum Wasser. Taz atmete erleichtert aus. Sie hatte Angst, wenn das Meer so hohen Wellengang hatte, und traute sich noch immer nur an der Hand ihres Vaters ins Wasser. Sie hatte nie schwimmen gelernt, und ihre größte Panik war, mit dem Kopf unterzutauchen. Sie fröstelte schon, wenn sie nur mit Wasser bespritzt wurde.
Die drei neuen Freundinnen
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