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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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schon sechs Monate später verlobt hat! Glauben Sie mir. Ich war mir damals sicher, dass Lulu Sie nicht behalten hätte, und das glaube ich auch heute noch. Sie hätte Sie garantiert zur Adoption freigegeben, und so sind Sie wenigstens bei Ihrem richtigen Vater und zusammen mit Ihrem Halbbruder aufgewachsen. Und ich habe Ihrer Mutter die Trauer um Diane erspart.«
    »Ich habe die arme tote Diane nicht ersetzt. Mein Vater wollte gar nicht, dass ich Diane bin, und ich habe mein ganzes Leben gegen den Schatten dieser Lüge angekämpft, ohne je zu begreifen, was ich da eigentlich tat. Ich bin Louise Nightingale, und ich weiß, ohne dass Sie mir das sagen müssen, dass das der Name war, den meine wirkliche Mutter für mich ausgesucht hatte, der Name, den mein Vater an meiner Wiege und später an meinem Bett geflüstert hat, wenn er dachte, ich schliefe.
    Und Sie sind gescheitert, begreifen Sie das nicht? Als ich größer wurde und meiner richtigen Mutter von Tag zu Tag ähnlicher sah, war ich für meinen Vater eine ständige Erinne-450

    rung an die Frau, die er geliebt und dann verraten hatte. Sie haben die Macht, die sie über ihn hatte, nicht zerstört, im Gegenteil, Sie haben dafür gesorgt, dass die Erinnerung an sie in seinem Haus lebendig blieb. Nehmen Sie diesen Gedanken abends mit in Ihr kaltes leeres Bett! Und jetzt gehen Sie bitte, ehe ich mich vergesse.«
    Amelia wandte sich wortlos um und stolperte hinaus in das Unwetter, den Kopf tief gebeugt, vielleicht gegen den Sturm.
    Als das Auto unter den Bäumen verschwand, trat Nightingale zurück ins Haus und schloss die schwere Eichentür. Es gab keine Riegel mehr, die man hätte vorlegen können, also klemmte sie den umgekippten Stuhl unter die Klinke. Mit der Hintertür machte sie das Gleiche.
    Sie kochte sich eine starke Tasse Tee. Trotz der Enthüllungen der letzten halben Stunde fühlte sie sich ausgesprochen ruhig und selbstsicher, als hätte sie eine anstrengende Schlacht hinter sich und wäre siegreich daraus hervorgegan-gen. Sie empfand neue Hochachtung für Mary, die das alles gewusst haben musste, aber ihr nie etwas gesagt hatte, auch nicht, wenn sie sie provoziert hatte. Noch wichtiger aber war, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben wusste, wer sie wirklich war. Und dieses Wissen verlieh ihr wieder größeres Selbstvertrauen und ein neues Verantwortungsgefühl.
    Entscheidungen mussten gefällt werden, aber sie würde sie behutsam und mit Rücksicht auf andere treffen. Sollte sie Simon und seiner Frau die Wahrheit sagen? Sollte sie versuchen, ihre richtige Mutter zu finden? Das würde ihr vielleicht ermöglichen, persönlichen Frieden zu finden, aber was würde es für Lulu bedeuten? Inzwischen hatte ihre Mutter bestimmt die Trauer um die verlorene Tochter bewältigt und sich ein neues Leben aufgebaut.
    Ihre arme »Mutter« Mary. Wann hatte sie erstmals die 451

    Wahrheit über die problematische Tochter geahnt, die zu lieben ihr so schwer fiel? Wann hatte sie sie schließlich angesehen und erkannt, dass sie ein fremdes Kind im Haus hatte, einen Fremdkörper, der mit jedem Tag der Frau ähnlicher wurde, mit der ihr Mann bis zum Tag ihrer Hochzeit und auch noch danach eine Affäre gehabt hatte? Es war ein grausamer Gedanke.
    Aber eine Entscheidung war leicht zu treffen. Sie würde das Grab ihrer Halbschwester finden und dafür sorgen, dass es nach all den Jahren eingesegnet wurde. Das war das Mindeste, was sie tun konnte, und sie würde Mill Farm nicht eher verlassen, bis sie diese Aufgabe erfüllt hatte.

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    Kapitel siebenundzwanzig
    Acht Uhr morgens, und London war schon brü-
    tend heiß. Auspuffgase überzogen die Kehlen der Fußgänger mit einem unsichtbaren Schmierfilm. Fenwick trug sein Jackett über dem Arm. Im Laufe der Nacht waren keine Anrufe von Robyn oder Knotty gekommen, und er sah seinem Treffen mit MacIntyre um neun Uhr nicht gerade freudig entgegen. Er kaufte sich einen Eiskaffee, setzte sich auf eine Bank im Schatten eines Baumes und rief Knotty an, der sich prompt meldete.
    »Ich wollte Sie gerade anrufen. Gestern Abend hab ich mit dem Hausarzt von den Smiths gesprochen. Ich hab ihn privat aufgesucht, und als ich kam, hatte er schon ein paar Gläschen intus, deshalb war er wohl ein bisschen redseliger, als er es in seiner Praxis gewesen wäre.«
    »Gut gemacht. Was hat er gesagt?«
    »Körperlich waren sie kerngesund, aber der Vater litt an Depressionen, die mit zunehmendem Alter schlimmer wurden. Seine Frau hatte

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