Crescendo
Klippenrand entfernt, wobei Nightingales Beine das Tau waren. Sie grub die Hände in den Boden, riss büschelweise Grashalme aus, während er sie zum Abgrund und dem sicheren Tod zog. Sie schrie jetzt, am En-de ihrer Möglichkeiten und ihrer Kraft. Er sprach die ganze Zeit, peinigte sie mit Bildern des Todes, aber sie ließ sich nicht von ihrem Überlebenskampf ablenken. Die Messer lagen außerhalb ihrer Reichweite. Der Boden war glatt, ohne auch nur einen Baum oder Felsen, an den sie sich hätte klammern können. Es war bloß noch eine Frage der Zeit, bis sie abstürzten. Die Rufe aus dem Wald wurden lauter. Sie gaben Nightingale Kraft für ein letztes Aufbäumen, und sie schaffte es, ihn zu bremsen.
Er hörte auf zu sprechen und legte nun all seine Energie darein, an ihren Beinen zu ziehen. Sie hatte keine Tränen mehr. Beide waren sie in einem reglosen Tableau im Mond-618
licht erstarrt, wie Statuen in einem grotesken Werk moderner Kunst, nur noch der Natur und der Zeit ausgeliefert. Nightingales Muskeln begannen vor Anspannung zu zittern. Der Schmerz im Bein und in der verletzten Seite war unerträglich. Sie spürte, wie sie schwächer wurde, und sie wusste, dass sie ihm diesmal wirklich nichts mehr entgegensetzen konnte.
»Himmel, bist du schön, von hier aus gesehen.« Er wechselte die Taktik, wollte ihre Konzentration stören. Sie hielt den Blick auf den Suchscheinwerfer des Hubschraubers gerichtet, der immer größer wurde, und dachte nur eins: bloß nicht lockerlassen. Er zog ruckartig an ihrem Bein, und ihr Knie rutschte. Sie verlor kostbare zehn Zentimeter, aber sie spannte die Muskeln an und kniff die Augen vor Schmerzen zusammen.
Der Suchscheinwerfer schwang im Halbkreis über die Klippe und wieder zurück, als starrte er fassungslos auf sie herab. Nightingale hörte das Dröhnen und spürte den Luftzug der Rotorblätter. Füße trommelten über den Boden, und jemand packte ihre Arme an den Handgelenken, um sie in Sicherheit zu ziehen.
Seine Hand glitt von ihrem Knöchel. Sie drehte sich um und sah Smith an, der aufstand und einen halben Satz auf den Abgrund zumachte. Der Mann, der sie befreit hatte, ließ jetzt los und setzte ihm nach, bekam ihn zu fassen, ehe er springen konnte, und riss ihn zu Boden. Sekunden später waren zwei Polizisten da und legten Smith Handschellen an. Er stieß einen entsetzlichen Schrei aus, als er spürte, wie ihm seine Freiheit genommen wurde, und wehrte sich verzweifelt, aber vergeblich. Er schluchzte, als sie ihn abführten. Dann war Smith verschwunden.
Nightingale lag erschöpft auf der Klippe. Es war ihr egal, dass ihr T-Shirt hochgerutscht war und das Mondlicht ihre 619
Nacktheit beschien. Sie sog den würzigen Duft des Grases ein, salzig und frisch. Jemand legte ihr eine Jacke um und wollte ihr beim Aufstehen helfen. Sie schaffte es nicht, und der Helfer kniete sich nieder und legte einen Arm um sie, achtete aber darauf, den Schnitt in ihrer Seite nicht zu berühren. Eine sanfte Hand strich ihr das Haar aus dem Gesicht und legte sich sachte in ihren Nacken, warm und tröstlich.
»Alles ist gut. Sie sind jetzt in Sicherheit. Kommen Sie, Nightingale, ich bring Sie nach Hause.«
Als sie Fenwicks Stimme hörte, entfuhr ihr ein Schrei der Erleichterung, dann lehnte sie den Kopf an seine Brust und ließ sich willenlos von ihm aufhelfen.
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