Crescendo
lassen Sie seine Tochter jetzt nicht im Stich. Er würde wollen, dass ich die ganze Wahrheit erfahre.«
»Da bin ich mir nicht sicher.« Amelia leerte ihr Glas und blickte hoffnungsvoll zur Rumflasche hinüber. Nightingale machte ihr noch einen Grog und hoffte, dass der Alkohol Amelias letzte Bedenken zerstreute.
»Was auch immer Sie getan haben, ich bin sicher, Sie ha-442
ben es aus Liebe zu meinem Vater getan.« Nightingale zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie innerlich etwas empfand, das nicht weit von Hass entfernt war.
»Das stimmt, absolut. Glauben Sie mir. Und natürlich war es auch für Sie besser so, meine Liebe. Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie nicht böse werden. Wir haben es nur gut gemeint.«
Trotz ihrer schwachen körperlichen Reaktion arbeitete Nightingales Verstand plötzlich messerscharf. Sie war schon immer ein logisch denkender Mensch gewesen, und daran klammerte sie sich jetzt, als die Grundfesten ihrer Welt ins Wanken gerieten. Warum hatte ihre wirkliche Mutter sie weggegeben? Wie hatte sie es übers Herz bringen können, sich von ihrem eigenen Kind zu trennen? Und warum um alles in der Welt hatte die Frau ihres Vaters das Kind seiner Geliebten angenommen? Sie zuckte die Achseln, und Amelia schien das als Zeichen des Einverständnisses aufzufassen.
Sie setzte sich zurück und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
»Diane ist ganz plötzlich gestorben. Um acht Uhr abends hatte Ihr Vater sie neben Simon ins Bettchen gelegt. Mary hütete noch immer das Bett, obwohl die Geburt leicht gewesen war. Sie weinte viel und war erschöpft. Heutzutage nennt man das eine postnatale Depression, aber wir dachten damals, dass sie bloß schlechter Stimmung war und sich bald wieder fangen würde.
Um zehn Uhr fing Simon an zu weinen, weil er Hunger hatte, und Ihr Vater trug ihn durch die Küche. Beide Kinder bekamen das Fläschchen. Ich weiß nicht, warum Ihre Mutter die Kleinen nicht stillen konnte oder wollte. Wie dem auch sei, Ihr Vater hat Simon gefüttert und gewickelt und ist dann Diane holen gegangen. Er dachte, sie würde tief schlafen und hat sie nach unten gebracht … sie hatte noch immer ihren 443
kleinen Schlafanzug an, als er bei mir vor der Tür stand. Er war in seinem Pyjama durch den Wald gelaufen … hatte sich nicht mal einen Mantel übergezogen.« Amelia hielt inne, um einen Schluck zu trinken.
»Lulu war schon Stunden zuvor schlafen gegangen, aber ich war noch auf. Er war fast hysterisch, als er bei mir ankam.
Ich hab ihn in die Küche bugsiert, und er hat das Baby auf den Tisch gelegt. Ich hab die Kleine aus der Decke gewickelt und sofort gesehen, dass sie tot war. Ihm zuliebe hab ich noch nach dem Puls gefühlt, aber sie war eindeutig tot.
Wir haben ein paar Whisky getrunken, und er hat eine ganze Weile in meinen Armen geweint. Er wusste nicht, was er machen sollte. Mary war ohnehin schon so deprimiert, und er dachte, das würde ihr den Rest geben. Er hat herumphan-tasiert, dass ihr vielleicht nicht richtig klar gewesen sei, dass sie Zwillinge geboren hatte, aber den Gedanken hab ich ihm gleich ausgetrieben, eine Mutter weiß so was natürlich.
Schließlich hat er das tote Baby bei mir gelassen und ist zurück zur Farm. Er wollte es Mary erst am Morgen erzählen, wenn sie aufgewacht war, vorher nicht.«
»Und in jener Nacht wurde ich geboren.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Amelia nickte und blinzelte sich Tränen aus den Augen. »Haben Sie meine Mutter überredet, mich herzugeben?«
Sie war selbst erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang, wo sie doch ganz bewusst tief atmen musste, um gegen das Ge-fühl der Übelkeit anzukämpfen. Amelia schüttelte den Kopf.
»Ganz so war es nicht.«
Als Amelia den Blick hob und ihr Gesicht im Halbdunkel sah, zuckte sie zusammen und wandte sich ab.
»Sie müssen es mir sagen. Vater würde das so wollen.«
»Ich weiß.« Amelia nickte. »Sie müssen das verstehen, Ihr 444
Vater war völlig verzweifelt, nicht bloß vor Trauer, sondern auch vor Angst um den Geisteszustand Ihrer Mutter, ich meine Marys Geisteszustand. Lulu dagegen, nun ja, oberflächlich betrachtet war sie eine reizende Frau, aber sprunghaft und temperamentvoll. Sie war eine Künstlerin. Wer weiß, was für eine Mutter sie geworden wäre. Sie führte ein unstetes Leben, blieb nie lange mit einem Mann zusammen.«
Nightingale presste die Lippen zusammen, um einen Ausbruch zu verhindern, der diese Frau verschreckt hätte, aber innerlich tobte sie vor Empörung
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