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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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dass Lulu während der Zeit woanders wohnte. Tante Ruth konnte Amelia überreden, ihre Freundin solange bei sich unterzub-ringen.
    Nightingale sah sich einen Packen Fotos an, während sie den Tee trank, und versuchte, Namen mit Gesichtern zu-sammenzubringen. Die junge Frau, die sie für Lulu hielt, kam ihr irgendwie bekannt vor, und während sie noch überlegte, an wen sie sie erinnerte, fiel sie langsam in einen traumlosen Schlaf.
    Ein leises Klopfgeräusch draußen vor dem Fenster weckte sie bei Tagesanbruch. Eine Drossel hatte eine Schnecke im Schnabel und schlug sie entschlossen gegen die Fensterbank.
    Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher, das nach der ver-regneten Nacht triumphierend klang. Die Sonne stand tief und schien durch eine Lücke in den Bäumen. Am Vormittag machte sie oben das Schlafzimmer sauber, das sie sich ausgesucht hatte, und schnitt einen Strauß Heckenrosen, den sie in einem cremefarbenen Tonkrug auf die Frisierkommode stellte.
    Sie entschied sich gegen Vorhänge. Ihr gefiel die Vorstellung, im Rhythmus der Sonne aufzuwachen und zu schlafen. Sie war auf dem Weg nach unten, als es an der Haustür klopfte.
    »Miss Nightingale, guten Morgen.« Der alte Pfarrer tippte gegen die Krempe seines Hutes. »Ich wollte Sie zur Kirche einladen. Den Frühgottesdienst haben Sie verpasst, aber um elf ist noch einer, falls Sie den Ruhetag des Herrn ehren möchten.«
    Er starrte viel sagend auf Schrubber und Eimer in ihren 256

    Händen, und in seinen letzten Worten lag deutlicher Nachdruck. Der Pfarrer ging ihr schon wieder auf die Nerven, dennoch verspürte sie plötzlich Lust, in die Kirche zu gehen.
    Sie war einfach schon zu lange allein, und es würde ihr gut tun, mal wieder unter Menschen zu kommen.
    »Mal sehen, ob ich rechtzeitig fertig werde.« Sie wollte es ihm nicht zu leicht machen.
    Er nickte und spähte über ihre Schulter.
    »Alle Achtung, das Haus ist ja nicht mehr wieder zu erkennen. Haben Sie das alles allein gemacht?«
    »Ich bin allein hier, wenn Sie das meinen.«
    »Und nicht nur das Haus. Der Garten ist ja schon wieder so gut wie gezähmt, und Sämlinge haben Sie auch schon gepflanzt, wie ich sehe. Bis später dann.«
    Nightingale sah ihn auf dem zerfurchten Weg davonge-hen, den Rock wegen der Pfützen ein Stück hochgezogen und ordentlich unter den Gürtel geklemmt. Wenn der Gottesdienst um elf anfing, musste sie sich beeilen. Sie machte Feuer unter dem Kupferkessel in der Spülküche und füllte ihn mit Wasser vom Bach. In den zwanzig Minuten, bis das Wasser lauwarm war, goss sie das Kräuterbeet. Die Rosmarinbü-
    sche waren ausgedünnt, der Zitronen- und Gartenthymian in Form geschnitten und der Salbei auf fast normale Größe ge-trimmt. Während sie arbeitete, erfüllte ein Gemisch von Düften die warme Luft.
    Sie schnitt etwas Lavendel ab und warf ihn ins Wasser, dann zog sie ihre Sachen aus, um sich in der Spülküche zu waschen. Als sie fertig war, prickelte ihre Haut und war ganz rosa, ihr Haar glänzte nass, trocknete aber rasch in der zu-nehmenden Wärme. Die Bluse, die sie aus ihrem Koffer nahm, war ein wenig zerknittert, aber der lange geblümte Rock fiel faltenfrei. Sie steckte ihre Perlenohrringe an, 257

    schminkte sich die Lippen und legte etwas Parfüm auf. Sie repräsentierte ja schließlich die Nightingales.
    Die Glocken läuteten schon, als sie den Wagen parkte. Ei-ne alte Dame, schwer auf einen Stock gestützt, humpelte hastig zur Tür, und Nightingale folgte ihr den Weg entlang. Eiben standen um das Tor Spalier und warfen Schatten auf das von Flechten bedeckte Gras. Eichen und Ebereschen im stol-zen Sommerkleid umringten die Kirche.
    Die Kirchentür quietschte laut, als die alte Dame sie aufdrückte, und ein Dutzend Köpfe drehte sich um. Zwei Dutzend Augen wurden vor Verblüffung größer, als sie hinter der Alten eine Fremde hereinkommen sahen. Nightingale ging ein kurzes Stück den Mittelgang hinunter, bekreuzigte sich und kniete kurz nieder, eine Bewegung, die sie in der Kindheit verinnerlicht hatte. Vor sich nahm sie das Raunen alter Menschen wahr, wie trockenes Rascheln. Der Pfarrer kam mit einem Chor herein, der das Durchschnittsalter schlagartig senkte und die Zahl der versammelten Gemeindemitglieder auf zwanzig erhöhte.
    Die Organistin spielte die Eröffnungstakte des ersten Kir-chenliedes, und Nightingale fiel ungehemmt mit ein, fest davon überzeugt, dass ihre Altstimme gut ankommen würde.
    Während sie sang, beobachtete sie die Organistin, eine

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