Crescendo
geleert und sah mit einem Stirnrunzeln zu, wie ihre Gastgeberin es großzügig auffüllte.
Bei Käse und selbst gebackenen Keksen erzählte Amelia vom frühen Tod ihres Mannes nach langjähriger Krankheit. Dank eines finanziellen Polsters hatte sie den Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen können, und sie selbst erhielt eine kleine Witwenrente, mit der sie gut über die Runden kam.
Nightingale konnte nachvollziehen, dass eine so resolute und fleißige Frau wie Amelia sich mit Tatkraft für die Dorfge-meinschaft: und die Kirche engagierte.
Beim Kaffee, zu dem Amelia weiterhin emsig dem Wein zusprach, sprachen sie über Tante Ruth.
»Sie war eine gute Freundin. Sie hat mich sehr unterstützt, als George krank war, und auch nach seinem Tod.«
»Ich glaube, die Seite an ihr hat mein Vater gar nicht gekannt.«
»Ihr Vater!« Amelia schüttelte den Kopf und stand auf, um das letzte Geschirr abzuräumen.
»Was ist denn mit meinem Vater? Ich hab ihn eigentlich nie so richtig gekannt.«
Amelia hielt Nightingale den Rücken zugewandt, während sie die Spülmaschine einräumte.
»Ich denke, wir sollten ihn in Frieden ruhen lassen.« Amelia, die vorhin noch schwatzhaft gewesen war, wurde auf einmal verschlossen. Trotz des vielen Weins, den sie getrunken hatte, wollte sie kein Wort mehr sagen.
264
Sie tranken Tee im Garten, und nachdem Nightingale die gepflegten Beete gebührend bewundert hatte, unternahm sie einen neuen Anlauf, mehr über ihre Familie zu erfahren.
»Sie haben es wunderschön hier. Ich fühle mich fast wie zu Hause.«
»Kein Wunder. Sie sind ja hier geboren.«
»In diesem Haus?«
Ihre Gastgeberin sah aus, als wäre sie in eine Falle getappt, lachte dann wie ein Schulmädchen.
»Aber nein. Sie sind auf der Mill Farm geboren, mit Ihrem Bruder Simon.«
Sie fächelte sich Luft zu, während Nightingale sie verstohlen beobachtete.
»Und Lulu Bullock, welche Rolle spielt sie in der Geschichte?«
Amelia saß ein Stückchen vor ihr, daher konnte Nightingale ihr Gesicht nicht genau sehen, aber die Wirkung der Frage war auch so zu erkennen. Die Frau erstarrte, die Tee-tasse fiel ihr beinahe aus der Hand. Nach einer längeren Pause sagte sie: »Woher kennen Sie eigentlich Lulus Namen?«
»Nur aus Briefen, die ich im Haus meiner Tante gefunden habe, aber als ich vorhin ihre Initialen auf der Statue am Grab gesehen habe, bin ich neugierig geworden.«
»Sie war eine alte Freundin Ihrer Tante.«
»Soviel ich weiß, hat sie im Jahr meiner Geburt bei ihr gewohnt. Sie war Bildhauerin?«
»Ja, das war sie. Und zwar eine sehr gute.« Amelias Erleichterung über den Themenwechsel war deutlich spürbar.
»Sie hat den Auftrag bekommen, das neue Taufbecken für unsere Kirche zu machen. Das alte aus dem fünfzehnten Jahrhundert war von Vandalen zerstört worden, und wir haben Geld für ein neues gesammelt. Lulus Onkel, der früher hier 265
im Kirchenchor war, hatte versprochen, die Summe, die das Dorf zusammenbrachte, zu verdoppeln, wenn er den Künstler aussuchen dürfte. Alle waren einverstanden, aber dann entschied er sich für Lulu, und die Hölle brach los.«
»Wieso denn das?«
»Na, weil sie eine praktizierende Buddhistin war, die in einer Kommune bei Glastonbury lebte. Stellen Sie sich das bloß vor!«
»Und sie und meine Tante standen sich mal sehr nahe, nicht?«
Amelia wurde knallrot im Gesicht. Dann hatte sie richtig vermutet; Lulu und Tante Ruth waren ein Paar gewesen, und der konservativen Frau da vor ihr war das peinlich.
Durch die Frage schlug die Stimmung des Nachmittags um, und Nightingale beschloss, nach Hause zu fahren. Sie bedankte sich und nahm Amelias Einladung zum Mittagessen am folgenden Sonntag an, um die Verlegenheit, in die sie ihre Gastgeberin unbeabsichtigt gebracht hatte, wieder gutzuma-chen.
Nach dem Gottesdienst am nächsten Sonntag wartete sie innen vor der Kirchentür auf Amelia. Um sich die Zeit zu vertreiben, schaute sie sich das Taufbecken an, das von der Hand der Geliebten ihrer Tante stammte. Das Lamm Gottes stand auf einem Dornenfeld. Dahinter war eine kunterbunte Schar prächtig gestalteter Vögel, Tiere und Fische. Davor erhob sich ein großer und bedrohlicher Wolf, eine Schreckensgestalt mit mächtigen Schultern, heraushängender Zunge, mit Beinen, die so kräftig waren, dass sie endlose Strecken auf der Suche nach Beute zurücklegen konnten, und mit einer empfindlichen Nase, die jedes Tier aufspüren konnte, wo auch immer es sich verbarg.
266
Seine
Weitere Kostenlose Bücher