Crisis
Klagen über Schmerzen in der Brust, die auf Darmgase zurückzuführen gewesen waren, glauben Sie, dass Dr. Bowman am Abend des 8. September 2005 tatsächlich vermutete, Patience Stanhope könne einen Herzinfarkt erlitten haben?«
»Einspruch«, schrie Tony und sprang auf. »Hörensagen.«
»Stattgegeben«, entgegnete Richter Davidson. »Diese Frage kann dem Beklagten bei seiner eigenen Befragung gestellt werden.«
»Keine weiteren Fragen«, sagte Randolph. Mit großen Schritten kehrte er an den Tisch der Verteidigung zurück.
»Möchten Sie Ihren Zeugen noch einmal befragen?«, wollte Richter Davidson von Tony wissen.
»Nein, Euer Ehren«, antwortete dieser.
Als Jordan den Zeugenstand verließ, drehte sich Jack zu Alexis um. Als Reaktion auf Randolphs Kreuzverhör reckte er kurz den Daumen in die Höhe, doch dann wanderte sein Blick weiter zu den Geschworenen. Sie wirkten nicht annähernd so gefesselt wie er. Statt dass sich viele von ihnen, wie es vorher der Fall gewesen war, nach vorne beugten, saßen nun alle zurückgelehnt auf ihren Sitzen und hatten die Arme vor der Brust verschränkt, abgesehen von dem Klempnergehilfen, der sich wieder mit seinen Fingernägeln beschäftigte.
»Mr Fasano, rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf!«, befahl Richter Davidson.
Tony stand auf und rief mit lauter Stimme: »Ms Leona Rattner in den Zeugenstand, bitte.«
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Kapitel 12
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Boston, Massachusetts Mittwoch, 7. Juni 2006 15.25 Uhr
Jack drehte sich um. Er verspürte eine fast lüsterne Spannung im Gerichtssaal, endlich das attraktive Flittchen zu sehen, das sich als verschmähte Geliebte in diesen Drachen verwandelt hatte. Nachdem er ihr vor Anzüglichkeiten strotzendes Befragungsprotokoll gelesen hatte, war er davon überzeugt, dass ihre Aussage ein Spektakel werden würde.
Leona kam durch die Tür des Gerichtssaals herein und ging ohne zu zögern den Mittelgang entlang. Im Gegensatz zu Craigs Beschreibung ihrer üblichen aufreizenden Kleidung trug sie nun einen seriösen dunkelblauen Hosenanzug mit einer bis zum Hals geschlossenen weißen Bluse. Jack nahm an, dass Tony Fasano ihr dazu geraten hatte. Der einzige Hinweis auf ihren üblichen Stil waren hochhackige Sandalen, auf denen sie etwas wacklig lief.
Obwohl Leona so dezent gekleidet war, erkannte Jack sofort, was Craig an ihr angezogen hatte. Ihre Gesichtszüge waren an sich nicht außergewöhnlich, genauso wenig wie ihr offensichtlich gefärbtes strohblondes Haar mit dem dunklen Ansatz. Doch ihre Haut war makellos und strahlend, der Inbegriff schamlos präsentierter jugendlicher Sinnlichkeit.
Mit einem kessen Kopfschwung durchschritt sie die Pforte in der Absperrung. Sie wusste, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, und sie genoss es.
Jack warf einen vorsichtigen Blick in Alexis’ Richtung. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, und ihre fest aufeinandergepressten Lippen verliehen ihr einen entschlossenen Ausdruck. Jack hatte den Eindruck, dass sie sich gegen das wappnete, was nun bevorstand. Nach der Lektüre von Leonas Aussageprotokoll hielt er das für eine gute Strategie.
Der Gerichtsbeamte vereidigte Leona, während sie ihre rechte Hand erhob. »Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?«
»Ich schwöre«, sagte Leona mit leicht näselnder Stimme. Sie warf dem Richter durch ihre stark getuschten Wimpern einen sittsamen Blick zu, während sie die Stufe zum Zeugenstand hinaufstieg.
Tony ließ sich Zeit, während er ans Rednerpult trat und seine Notizen ordnete. Dann stellte er wie üblich einen seiner Tasselloafer auf den Messingfußlauf und begann mit der Befragung seiner Zeugin. Als Erstes erstellte er eine kurze Biographie: wo sie geboren war (Revere, Massachusetts); wo sie die Highschool besucht hatte (Revere, Massachusetts); wo sie momentan lebte (Revere, Massachusetts). Er fragte sie, wie lange sie schon in Dr.
Craig Bowmans Praxis arbeitete (über ein Jahr) und wo sie an drei Abenden in der Woche die Abendschule besuchte (Bunker Hill Community College).
Während Leona diese wenig aufregenden Einstiegsfragen beantwortete, hatte Jack Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Er bemerkte, dass sie und Tony den gleichen Akzent hatten, der in seinen Ohren ebenso gut der Brooklyner hätte sein können wie einer aus Boston. Außerdem erkannte er weitere Anzeichen für die Charaktereigenschaften, die Craig beschrieben hatte: Dickköpfigkeit, ein lebhaftes
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