Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
würde man in ihnen diese Äußerungen der Wut, diese Blasphemien finden. Ich kann verstehen, warum Chirurgen eine solche Operation nicht wagen. Die Inquisition ist wachsam.
Ein Mal, ein einziges Mal hat unsere Mutter uns zu ihrem Feind gebracht. Damals blies der Wind so stark, dass wir aus Angst, davongeweht zu werden, nur gebeugt, einer an den anderen geklammert, und nur schrittweise vorwärtsgehen konnten, weil die Luft so viel Widerstand bot wie eine Mauer. Graue Gischt hatte die Kais überschwemmt. Grüne Wellen, höher als die Häuser, stürmten pausenlos die Küstenfelsen hoch. Der Hafendamm bot den Schiffen keinen Schutz mehr, sie schaukelten in alle Richtungen wie eine aufgescheuchte Herde. Unsere Mutter streckte den Arm aus, deutete mit dem Finger aufs Meer.
«Wollt ihr das wahre Gesicht des Meeres sehen? Da ist es! Alles andere ist Lüge!»
Arme Susanna! Ihre Lektion hat nichts gefruchtet. Ich habe noch das Lächeln von Cristóbal vor Augen. Nie zuvor hatte ich ihn so ruhig gesehen. Er drehte langsam den Kopf, von rechts nach links, um nichts von dem Schauspiel zu verpassen. Und er lächelte. Er sog die salzige Luft ein und lächelte. Er wagte sich noch weiter vor, um noch mehr von der Gischt abzubekommen, schloss die Augen und lächelte.
Ich merke es wohl: Meine beiden Dominikaner werden ungeduldig.
Sie warten darauf, dass die Hauptperson die Bühne betritt. Wie alle sehen sie in mir eine belanglose Größe. Ich lese es in ihren Gesichtern: Sie denken nur an Cristóbal. Für wen hält sich dieser Bartolomeo, dass er uns mit seinem kleinen Leben beschwatzt? Wann wird er uns endlich von Cristóbal und seinem Unternehmen erzählen?
Na und?
Wenn man mir schon einmal das Wort erteilt, will ich es ein wenig behalten. Sie werden es nicht wagen, ihre Unzufriedenheit allzu deutlich zu zeigen. Sie vergessen nicht, dass ich der geliebte Onkel des Vizekönigs bin. Und dass ich trotz meiner Gebrechlichkeit noch Erinnerungen habe, die für jeden wertvoll sind, der die Geschichte Westindiens schreiben will.
Keine Sorge, bald taucht mein Bruder auf.
Die Hoffnungen, die wir in sprechende Vögel gesetzt hatten, hielten dem Versuch nicht stand: Ihre Refrains waren immer dieselben und lieferten uns keine geographischen Hinweise von Interesse. Großmütig ließ Andrea die Papageien aus ihrem Käfig. Sie flogen ein wenig auf und ab, bevor sie sich auf dem einzigen Platz niederließen, von dem sie nicht wissen konnten, dass er tabu war: mitten auf dem Kartenwerk, an dem wir gerade arbeiteten, unserer neusten Karte von der Goldküste. Unserem entsetzten Aufschrei folgte wütendes Gebrüll, denn die Biester suchten sich dievon uns am sorgfältigsten gezeichneten Küstenlinien aus, um dort ihren Mist abzusetzen. Durch ein Wunder und auf ausdrücklichen Befehl von Andrea drehte man ihnen nicht die Hälse um. Stattdessen verfrachtete man sie,
manu militari,
wieder zurück in ihren Käfig.
So begannen zwei Tage und zwei Nächte mit pausenlosem Gezeter. Zweifellos um ihre Abscheu vor der Gefangenschaft kundzutun, kannten die Vögel nur noch eines und wiederholten ständig den immergleichen Satz, «Nan Nga Def, Nan Nga Def», der für Kartographen völlig nutzlos ist, denn er bedeutet «Wie geht es Ihnen?»
In allen Tonlagen, mal in den höchsten Tönen schmeichelnd, mal dunkel drohend, versprachen wir den Papageien die Freiheit unter der Bedingung, dass sie uns eine größere Bandbreite ihres Talents darboten.
Doch angesichts ihres offenkundigen Unwillens und der Eintönigkeit ihres Beitrags zum Gespräch, «Nan Nga Def, Nan Nga Def», befahl Andrea, unseren kleinen Vogelkäfig wieder zu verkaufen.
Ich erhielt einen guten Preis von einer gewissen Frau Elisabeth, die mit Vögeln handelte. Sie hatte drei Kinder und keinen Mann mehr, da dieser sieben Jahre zuvor in See gestochen und seitdem verschollen war. Mit jenem Geschäft hatte sie ein Auskommen für ihre Familie gefunden.
Denn die Witwen oder künftigen Witwen waren geduldiger als die Kartographen und suchten die Gesellschaft sprechender Vögel. Katzen, Hunde, Geparden, Schildkröten oder Tiger mögen einem auf tausenderlei Arten, mit Knurren, Blicken oder Schmusen, ihre Zuneigung zeigen – um die Einsamkeit zu überlisten, geht nichts über einen Satz, einen echten Satz, mit wohl voneinander abgesetzten Wörtern, der nach der Art der Menschen ausgesprochen wird. Wen kümmert es da, dass es immer dieselben und tausendfach wiederholten Sätze sind? Im
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