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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Merkwürdigkeit dieser Melodien ist, dass sie, ob christlich, jüdisch oder maurisch, noch trauriger sind als der Trübsinn. Das ist die Taktik der Musik, um den Trübsinn zu besiegen: Sie bringt etwas hervor, was noch trauriger ist.
    Und die zweite, noch unerklärlichere Merkwürdigkeit, sollte eine solche Steigerung möglich sein, besteht darin, dass dieses eigenartige Gegenmittel bald Wirkung zeigt. Kein Zweifel, die traurigen Lissabonner fühlen sich sogleich weniger betrübt, wenn sie sehen, dass ihre Fähigkeit, Trübsinn zu blasen, von der Musik übertroffen wird.
     

    Warum schreiben sich Worte, die von Musik begleitet werden, viel tiefer ins Gedächtnis ein als die bloßen, nackten Worte? Haben die Töne Häkchen, mit denen sie sich in den Schädelregionen festklammern, in denen die Erinnerungen lagern?
    So dieses kleine Lied, das ich schon vor vielen Jahren hörte und das ich, selbst wenn ich wollte, nicht mehr loswerde:
    «Aufs Meer hinaus geht mein Blick,
    Wenn ich dieses Portugal betrachte.
    Zum Fluss hinunter geht mein Blick
    Und sucht den Douro und den Minho…»
    Ich weiß, dass es mich den Rest meiner Lebensjahre begleiten wird.
    Und ich bitte schon im Voraus denjenigen um Verzeihung, der mir die Letzte Ölung geben wird. Es könnte sein, dass mir in meiner letzten Stunde statt erhabener Gedanken dieser selige Vierzeiler auf den Lippen liegen wird.
    Wozu zur See fahren? Würde es nicht genügen, Musik zu machen?
    Und wenn die Musik eine höhere Form des Meeres wäre? Beide sind flüssig, beide verbinden die Welten. Doch im Unterschied zum Meer hat die Musik keinen Bombast, sie hat es nicht nötig, ihre Kraft durch Stürme, ihre Grausamkeit durch Schiffbrüche zu zeigen.
     

    Mir ist ein Gedanke gekommen. Ein ganz schlichter und klarer Gedanke, aber umso verderblicher. Ein Gedanke, der große Gefahren in diesen Zeiten der Inquisition birgt. Den ich in meinem tiefsten Inneren hüten und vergraben muss, den ich niemals aussprechen darf. Ich weiß, Worte sind nicht sicher, diese kleinen Tiere entkommen dem Kopf, und sei es nachts durch die Tür der Seufzer oder Schreie, die unsere Träume oft begleiten. Der Gedanke besagt, dass Gott nichts, wirklich nichts anderes wollte als das Meer und die Musik. Der übrige Teil seiner Schöpfung – insbesonderedas Festland, die Menschen und ihre Sprachen – sind nur Entwürfe, schlechte Variationen oder mechanische Fingerübungen, missglückte Versuche, Änderungen, Abfall.
     

    Wie die meisten Frauen aus Genua hatte unsere Mutter einen persönlichen Feind: den Hafen. Denn im Hafen laufen die Schiffe aus, die die Männer und Söhne davontragen, von denen viele nicht mehr zurückkommen.
    Unsere Mutter bekreuzigte sich jedes Mal, wenn sie entlang der Kais zum Markt hinunter musste. Man hörte, wie sie unsere Vornamen murmelte, Cristoforo, Bartolomeo, später Giacomo… Sie rief die Heilige Jungfrau zu Hilfe: Ich vertraue dir meine Kinder an, wenn sie je, wie die anderen, ein Schiff besteigen.
    Ich habe erst zu spät begriffen, erst nach ihrem Tod, warum sie den Kopf immer den Bergen zuwandte, wenn sie in die Stadt ging: Ich bildete mir ein, sie wollte dem Meer nicht die Ehre eines Blickes erweisen. Heute weiß ich um ihr Bemühen, nicht die Aufmerksamkeit des Meeres auf sich zu lenken. Das ist die instinktive Taktik der Schwachen: In der Hoffnung, vergessen zu werden, tun sie alles, um dem, was sie fürchten, nicht ins Auge zu blicken.
    Je besser das Wetter wurde, desto widerwilliger ging meine Mutter an der Küste entlang. Unser Vater musste sie fast mit Gewalt mitschleppen. Und wenn die ganze Stadt beim Anblick des Mittelmeers, seines Azurblaus, seiner Silberreflexe, seiner Durchsichtigkeit in Verzückung geriet, schüttelte sie den Kopf und murrte:
    «Dummes Volk! Viel zu gutgläubig! Mit Blindheit geschlagen! Begreift ihr denn nicht, dass es nur schöntut, sich sanft gibt, um euch noch besser zu täuschen?!»
    Eines Tages werde ich vom Hass der Frauen auf das Meer erzählen.
    Es liegt bereits in der Natur der Männer, dass sie fortgehen.Warum hat Gott es dann für nötig gehalten, ihnen zu dieser Krankheit noch die ständige Versuchung durch das Meer mitzugeben? Warum hat er Männer und Frauen gemeinsam erschaffen? Warum hat er ihnen befohlen, sich gemeinsam fortzupflanzen, während er zur selben Zeit jenes verfluchte Meer schuf, die mächtigste aller Maschinen, um Paare auseinanderzubringen?
    Öffnete man die Köpfe von Frauen, die in Hafenstädten leben,

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