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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Gefolge, Bewunderung, Faszination, Hochachtung…
    Nachdem sie diese Annehmlichkeiten ausgekostet hatten, erwachte jedoch eine andere Lust in ihnen, ein Bedürfnis, wie es heute meines ist. Es ist eine Welle, die eines Tages aus der Bauchgrube kommt und bis zur Zunge aufsteigt, diese in Bewegung setzt und einem die Kiefer öffnet. Und während eine tiefsitzende Vorsicht darum fleht, man möge schweigen, hört man sich plötzlich von A bis Z sein ganzes Leben erzählen, die dunklen Seiten eingeschlossen. Vor allem die dunklen Seiten.
    Eines Tages gab es einen Sturm, wilder und heimtückischer als alles, was Gott sich je zuvor zum Zeitvertreib ausgedacht hatte: Schon bei der ersten Böe knickte er unseren Mast, und dann riss er, einen nach dem anderen, zehn Mann der Besatzung mit, die schlecht an der Brücke festgebunden waren. Den Überlebenden nahm er jeden Mut, so sehr schüttelte er uns, und er raubte unsden Verstand, indem er Tag und Nacht durcheinanderwirbelte, oben und unten, Himmel und Meer, Leben und Tod…
    Einmal gab es eine Flaute, wie sie hoffnungsloser nicht sein konnte; vielleicht hatte sie ihren Ausgang in einer großen Ermattung Gottes genommen: Nichts rührte sich; nicht die Luft, nicht die fliegenden Fische, nicht der Sand im Hals der Sanduhr, wir waren in ein Zeitloch gefallen…
    Eines Tages kam ein Wal, der hielt uns für einen Amboss und drosch mit seinem Schwanz auf uns ein.
    Und einmal litten wir Hunger, einmal litten wir Hunger, einmal litten wir Hunger.
    Eines Tages gab es eine Hitze, es gab eine Hitze, einmal ließ die Hitze den Kopf von innen schmoren, und man wurde todmüde: Wie hätte man dabei auch nur eine Minute schlafen können? Die Nacht war ein Backofen wie der Tag.
    Einmal hatten wir Fieberanfälle, unsere Leiber zitterten so heftig, dass sogar unser Schiff bebte und die schwankenden Masten beinahe umkippten.
    Eines Tages war absolut nichts mehr in unseren Bäuchen, und trotzdem floss unaufhörlich eine gelbliche und blutige Brühe aus uns heraus.
    Einmal stanken die Leichen unserer Freunde schon, kaum dass sie tot waren, also wurden sie über Bord geworfen und sofort von Haien gefressen.
    Und dann die Insektenstiche, die wie wahnsinnig juckten.
    Und die Würmer, die irgendwie unter die Haut geschlüpft waren und plötzlich mitten am Bein, am Bauch oder sogar aus den Augen hervorkamen.
    Eines Tages waren die Beine zu zwei Baumstämmen angeschwollen, so groß und runzelig wie Elefantenbeine.
    Und eines Tages war unser Zahnfleisch schwarz geworden, und unsere Zähne fielen einer nach dem anderen ins Wasser, und einmal schnappten Vögel unsere Zähne im Flug, bevor die Fische sie fraßen…
    Solche Geschichten erzählten die Seeleute dem linken Ohr von Ursula. Auf diese Weise, durch dieses Ohr, erfuhr ich, wie die Kehrseite der Entdeckungsreisen aussah.
    Keiner dieser Berichte steuerte je etwas zu unseren Karten bei. Schlimmer noch, fast hätte ich angefangen, mich für meinen Beruf zu schämen, so viele Entsetzlichkeiten erzählten sie: Was waren wir für Ungeheuer, dass wir Dokumente herstellten, mit deren Hilfe sich Seeleute in diese Höllen vorwagten?
    Nach einem mehr oder weniger langen Zeitraum kehrten die Seemänner zurück.
    «Was ist los mit dir?», fragte Ursula mit dem linken Ohr. «Habe ich dir nicht genug abgenommen? Willst du, dass ich dir auch die Hoden leere? Ich wusste schon immer, dass sie mit dem Gedächtnis in Verbindung stehen…»
    «Weißt du… ich gehe wieder zur See.»
    «Ich dachte, du hättest genug davon.»
    Dann erzählten die Seemänner das Gegenteil, das Gegenteil ihrer früheren Erzählungen.
    Es war einmal im hohen Norden bei Thule ein kurzes blaues Dämmerlicht, das an die Stelle der Nacht trat, es war einmal, bevor die Sonne erwachte und ihren runden Schädel über dem Wasser hervorstreckte, ein fröhliches Gelb am Himmel. Einmal waren da hundert Arten von Grau, und einmal war der Himmel am nächsten Morgen plötzlich wieder blau, als fürchtete er, man könne ihn vergessen haben. Einmal glitt das Schiff, von einem Bagstagswind getrieben und von verdutzten Vögeln verfolgt, nur so über das Wasser, einmal erlebten wir das Wunder, ein horizontales Gebirge hinabzustürzen, und einmal die Freundschaft einer Welle, die das Schiff auf ihrem Rücken forttrug, es von allen Sorgen erleichterte und bis über den Horizont hinaus beförderte. Es waren einmal laue Nächte, in denen die Fische zu fliegen begannen, es waren einmal die spöttischen Besuche der

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